Kapitel 5


Schlagschatten

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Schlagschatten

Der Freiheitszug flog nicht nur pfeilschnell durch die Landschaft, wie es das Lied „Mr. Konvalinka“ in der gut gelaunten Interpretation von Mirko Wrbeč suggeriert, sondern sein Schlagschatten hinterließ im Leben vieler Menschen, auf die er fiel oder die er auch nur streifte, einen nachhaltigen Eindruck.

Da waren einmal die zurückgekehrten Fahrgäste und das Personal des Fluchtzuges, die einen verbotenen Blick in die vor ihnen abgeschirmte kapitalistische Welt werfen konnten und die Einsichten, die sie daraus zogen, zu Hause vier Jahrzehnte lang unter den Scheffel stellen mussten, bevor sie schließlich offen reden durften. Da waren die Geflüchteten, deren gesamte frühere Existenz nach dem Schritt ins Exil nur noch als schattenhafter Umriss in ihrem Gedächtnis fortlebte und die erst wieder ihren Platz im Leben finden mussten; es erforderte eine gehörige Portion Mut, Anstrengung und Ausdauer, damit das gelingen konnte. Und da waren die in der Tschechoslowakei zurückgebliebenen Angehörigen, Freunde, Kollegen und Bekannten der Geflüchteten, auf die der Generalverdacht der Regimefeindlichkeit fiel; ohne ihr Zutun lebten viele von ihnen fortan in der kommunistischen Tschechoslowakei auf der Schattenseite derer, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit benachteiligt oder bestraft wurden.

Anderseits konnte der Schlagschatten des Freiheitszuges, wenn er angenommen, aufgearbeitet oder sogar verinnerlicht wurde, erstaunliche Metamorphosen durchlaufen und zu einer Quelle von Selbstbewusstsein, Energie und Kreativität werden.

Im Falle der Prager Familie Trobl verwandelte sich der Schlagschatten schließlich in den milden Schimmer einer nostalgischen Erinnerung. Die Trobls waren am 11. September 1951 von Prag an mit im Fluchtzug gesessen. Der Familienvater, Václav Trobl, war ein höherer Beamter der Prager Kriminalpolizei gewesen, bis die Machtergreifung der Kommunisten seiner Karriere ein Ende setzte. Seine Frau Vlasta und ihr halbwüchsiger Sohn Zdeněk gingen mit ihm ins Exil. So unauffällig sie sich im Zug von Prag nach Asch verhielten, so bescheiden ging ihr Leben danach im kanadischen Exil weiter. Václav Trobl war angeblich mit dem Ascher Arzt Jaroslav Švec, einem der Mitorganisatoren der Flucht, gut bekannt. Wie dies alles zusammenhing und was sonst noch mit im Spiel war, damit sich die Trobls entschlossen, in den Westen zu flüchten, das mögen sie einigen guten Bekannten in ihrer neuen Heimat Toronto anvertraut haben. Sonst machten sie nicht viel Aufhebens davon. In Toronto fassten sie Fuß, dort wurzelten sie ein und dort feierte Vlasta Troblová 2012 im Beisein ihres Sohnes den 100. Geburtstag. Václav Trobl war da bereits von ihr gegangen, jedoch in der Gemeinde der Tschechen und Slowaken von Toronto blieb er als Freiheitsheld unvergessen.

Auf Jiří Stránský fiel der Schlagschatten des Freiheitszuges mit der Wucht eines Beils herab, das sein Leben in zwei Stücke hieb: die Phase davor und danach. Mit der Fluchtaktion vom 11. September 1951 hatte der 1931 geborene Prager rein gar nichts zu tun. Dennoch geriet er in die Fänge der dem totalitären Staat hörigen Justiz - aufgrund falscher Anschuldigungen seines ehemaligen Vorgesetzten František Šilhart. Die Folgen waren niederschmetternd. Stránský wurde 1953 wegen angeblichen Hochverrats und Spionage zu acht Jahren Kerker verurteilt. Die Strafe verbüßte er in mehreren verschiedenen Gefängnissen und Arbeitslagern. Dort war er bei Weitem nicht der einzige Intellektuelle. Er lernte unter anderem den katholischen Dichter Jan Zahradníček kennen und reifte selbst zum Schriftsteller. Obwohl Jiří Stránský zu Unrecht verurteilt worden war, trotzte er Anwandlungen von Bitterkeit und Hass, die ihn heimsuchten, denn er erkannte: Rache fressen Seele auf.

Zdenka Hýblová streifte der Schlagschatten des Freiheitszuges nur flüchtig. Die Schülerin kehrte zurück, denn ein Herz schlug durch den Eisernen Vorhang. Sie holte einen Freund und eine Freundin nach. Rund einen Monat später flüchteten die drei Jugendlichen zu Fuß über die deutsche Grenze. Im Exil in den Vereinigten Staaten konnte sie sich frei entwickeln. Unter ihrem Ehenamen Zdena Hyblova Heller veröffentlichte sie bei amerikanischen Verlagen Gedichte und Erzählungen in Englisch. Zermürbende Erfahrungen in der Lagerhaft blieben ihr anders als ihrem Schriftstellerkollegen Jiří Stránský zwar erspart, die Kindheit und Jugend in der Tschechoslowakei während des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach beschäftigten sie jedoch dauerhaft und regten sie zur Kreativität an. Neben vielen anderen Themen spiegelt sich auch das Engagement der Jugend im Dienste der Menschlichkeit nach der Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei in Zdena Hyblova Hellers literarischen Werken wider. Obwohl von der Fiktion selbstverständlich nicht naiv auf die Realität geschlossen werden kann, sind Anklänge dieses Themas an Zdena Hyblova Hellers tschechoslowakische Lebenswelt unübersehbar.

Besonders scharf brannte sich der Schlagschatten des Fluchtzuges vom 11. September 1951 im Bewusstsein all jener ein, die an seiner Überfahrt nach Bayern aktiv mitwirkten. Karel Truksa und Jaroslav Konvalinka legten ihre biographischen Wurzeln, ihre Vorgeschichte als Widerstandskämpfer, aber auch Details der Vorbereitung und Durchführung der Flucht, die ohne sie völlig undenkbar gewesen wäre, noch im Herbst 1951 in einer Buchpublikation dar. Das unprätentiöse Buch mit dem Titel „Zur Sonne der Freiheit“ [8] erblickte das Licht der Welt im Selbstverlag, den Druck besorgte ein Turnverein von Landsleuten, der Slowakische Sokol in Perth Amboy. Das Werk wurde hauptsächlich unter Landsleuten in den USA rezipiert. Dank der Sorgfalt, mit der die tschechische Exilliteratur aus der kommunistischen Zeit gesammelt wurde, ist es in den Bestand der Prager Bibliothek Libri prohibiti eingegangen und dort öffentlich zugänglich.

Und noch ein zweiter Akteur der Flucht mit dem Personenzug veröffentlichte seine persönliche Geschichte in Buchform und trug so wesentlich dazu bei, Licht in das Informationsdunkel zu bringen, das diese einmalige Fluchtaktion lange Zeit einhüllte – Karel Ruml. Sein Buch „Aus dem Tagebuch des Freiheitszuges“ [7] endet im Jahr 1955. Da war Karel Ruml gerade mal 27 Jahre alt. Es wäre daher irreführend, bei diesem beachtenswerten Werk von einer „Autobiographie“ zu sprechen. Ich nenne es „Erinnerungsbuch“. Rumls sehr persönliche Aufzeichnungen vermitteln eine plastische Vorstellung von der Perspektivlosigkeit vieler Menschen nach der kommunistischen Machtergreifung in der Tschechoslowakei; einer Perspektivlosigkeit, die vielfach in eine Ausweglosigkeit mündete, sobald sie dagegen ankämpften. Rumls Erinnerungen machen begreiflich, dass es den Fluchtzug nicht gegeben hätte, wäre da nicht die existentielle Notlage der Menschen gewesen, die mit ihm ihr Heimatland verließen. Im Jahr 2010, zehn Jahre vor seinem Tod, präsentierte sich Karel Ruml auch in einer Serie kurzer englischsprachiger YouTube-Clips der Öffentlichkeit. Behaglich im Fauteuil zurückgelehnt, erzählt er von einigen entscheidenden Ereignissen seines außergewöhnlichen Lebens.

Mit seiner Lebensgeschichte erreichte Karel Ruml auch eine Verwandte der Familie Švec in der alten Heimat, die Ascherin Vlasta Lišková. Die Anglistin wusste von der Freundschaft zwischen den Familien Švec und Ruml. In deutschen Flüchtlingslagern entstanden, war sie nach 1965 in Kalifornien wiederaufgenommen worden, als Familie Švec aus Äthiopien dorthin zog. Vlasta Lišková spann diese Freundschaft nun in jüngster Zeit weiter. Sie initiierte einen Besuch von Angehörigen Karel Rumls in Asch. 2017 kam Karel Rumls Sohn Douglas mit seiner Familie nach Asch und Selb-Plößberg. Zurück am Ort der Weichenstellung, gewannen sie einen tiefen, lebendigen Eindruck vom Schlagschatten des kurzen tschechoslowakischen Lokalzuges, der am frühen Nachmittag des 11. Septembers 1951 beim Ascher Bahnhof über die präparierte Weiche holperte und seine Fahrt jenseits des Eisernen Vorhangs ein paar Kilometer vor Selb-Plößberg als „Freiheitszug“ beendete.