Kapitel 5


Schlagschatten

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Sterne am Himmel

So zielbewusst sich die Geflüchteten ihren Weg in die freie Welt gebahnt hatten, lag ihre Zukunft doch zunächst in den Sternen. Einfach alles war ungewiss: Wie bald sie Asyl bekommen und in welches Land sie ziehen würden, womit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten und wie sie eine Wohnung finden könnten. Das existentielle Vakuum, in das sie stürzten, ließ manch einen die Augen Trost suchend zum Himmel richten; immerhin die kosmischen Erscheinungen waren dieselben wie in der Heimat. Karel Ruml und seine Freundin Lada, die in Nymburk an der Elbe zurückgeblieben war, wählten einen gemeinsamen Stern, der bis zu ihrem Wiedersehen für sie leuchten sollte. Und Zdenka Hýblová, die zwar nicht mit, aber bald nach dem Freiheitszug nach Deutschland kam, suchte in Himmelserscheinungen Deutungshilfen für ihr persönliches Leben; sie wurden ein wiederkehrendes Motiv ihrer Gedichte und Erzählungen. Auch in Karel Truksas und Jaroslav Konvalinkas Freiheitsgefühl schwangen die Gestirne mit; sie nannten ihre gemeinsame Autobiographie „Zur Sonne der Freiheit“ [8].

In der Tat stellte sich die Welt am anderen Ufer des Großen Teiches für die Familien Truksa und Konvalinka anfangs sonnenklar dar. Als ihre Maschine der Fluggesellschaft Pan American am 18. November auf dem New Yorker Flughafen Idlewild landete, dem heutigen John-F.-Kennedy-Flughafen, erwartete sie schon eine Schar Journalisten. In deren Blitzlichtgewitter hieß sie ein einflussreicher Firmenchef willkommen. Lawrence Cowen, Präsident der Lionel Corp., hatte ein besonderes Geschenk in der Tasche. Mit einem Handschlag eröffnete er den beiden tschechoslowakischen Eisenbahnern, dass sie ab sofort Angestellte seiner Fabrik für Modelleisenbahnen seien. Ganz Amerika zollte der Wohltat vor den Fernsehschirmen Beifall. Der amerikanische Traum schien sich für Truksa und Konvalinka im Handumdrehen zu erfüllen. An ein Säumen war bei so viel Großzügigkeit nicht zu denken. Noch am Ankunftstag absolvierten die Familien Truksa und Konvalinka einen ersten Fernsehauftritt im Studio eines New Yorker Senders. Dann durften es sich Frau Truksa und Frau Konvalinka mit ihren Kindern im geräumigen Appartement eines Luxushotels bequem machen. Karel Truksa und Jaroslav Konvalinka standen noch Reportern der Rundfunksender Voice of America und Radio Free Europe Rede und Antwort, bevor auch sie sich zur wohlverdienten Ruhe begeben konnten.

 

Die Familien Truksa und Konvalinka in New York. Foto: K. Truksa, J. Konvalinka

 

Truksa und Konvalinka (links) besichtigen die Liberty Bell in Philadelphia. Foto: K. Truksa, J. Konvalinka

Der folgende Tag war ebenfalls randvoll mit Presseterminen gefüllt. Am übernächsten Tag zeigte man den geehrten Gästen New York: erst das Rockefeller Center, dann das Empire State Building und zu guter Letzt die von den Kommunisten so sehr verteufelte Wall Street. Truksa und Konvalinka waren überwältigt, als der Präsident sie persönlich durch die mächtigste Börse der Welt führte. Amerika ergoss seine Schätze aus dem Füllhorn des Kapitalismus noch einen ganzen Monat über den Fahrdienstleiter und den Lokführer des Freiheitszuges. Auf einer gesponserten Tour entlang der Atlantikküste und in den mittleren Westen hielt man sie mit einzigartigen Sehenswürdigkeiten, hochmodernen Fabriken und redegewandten Talkmasters in Atem. Auftritte vor ausgewanderten oder geflüchteten Landsleuten standen ebenfalls auf dem Programm, das alles umrahmt von zahlreichen Interviews in den Medien. Die Reise ging von New York nach Washington und von dort weiter in die Metropolen Boston, Philadelphia, Pittsburgh, Cleveland, Chicago und Detroit, wo Truksa und Konvalinka unter anderem den Firmenchef Henry Ford II. kennenlernten.

Nach einem Monat flaute das Interesse der Öffentlichkeit ab. Der scheinbare amerikanische Traum entschwand und wich dem Alltag im amerikanischen Exil. Immerhin war diesem ein so großartiger Auftakt vorausgegangen, wie ihn Truksa und Konvalinka nicht in ihren kühnsten Fantasien vorhersehen konnten. Noch vor Ablauf des Jahres setzten die beiden Eisenbahner mit einer gemeinsamen Autobiographie einen bemerkenswerten Schlusspunkt unter das Kapitel ihrer Flucht. Das weitere Leben von Truksa und Konvalinka verlief unspektakulär. Ihr Heimatland war ihnen verschlossen. Erst 1990 konnten Jaroslav und Růžena Konvalinka die Tschechoslowakei wieder besuchen. Dabei erlitt Frau Konvalinka einen Infarkt, an dessen Folgen sie im Krankenhaus Teplitz-Schönau / Teplice verschied. Jaroslav Konvalinka kehrte tief getroffen in die Neue Welt zurück. Karel Truksa verstarb dortselbst am 18. Dezember 1993.

Die größte Gruppe der politischen Flüchtlinge des Freiheitszuges verließ die Bundesrepublik Deutschland rund einen Monat vor Truksa und Konvalinka. Es waren zumeist junge Leute, die Asyl in Kanada erhalten hatten. Sie liefen am 15. Oktober 1951 mit einem Schiff in Bremerhaven aus. Die Reise über den Ozean dauerte neun Tage. Dann legten sie in ihrem Zielhafen Halifax an. In dieser Gruppe waren mehrere Gymnasiasten und andere junge Leute, die kurz entschlossen im Westen abgesprungen waren. Auch ihnen streckte sich, ähnlich wie Truksa und Konvalinka, eine wohlmeinende Hand entgegen. Der tschechische Schuhfabrikant Tomáš J. Baťa, der seit dem Zweiten Weltkrieg eine Niederlassung des Konzerns seiner Familie in Toronto leitete, bot ihnen Arbeitsplätze in seinem Betrieb an.

Karel Ruml war ebenfalls in dieser Gruppe. Er ging seinen eigenen Weg, arbeitete sich hoch und holte sein Studium der Rechtswissenschaft nach, aus dem er in der Tschechoslowakei aus politischen Gründen ausgeschlossen worden war. Ganz angekommen fühlte er sich in Toronto erst 1955, als er seine spätere Frau, die Kanadierin Jeanine, kennenlernte.

 

Karel und Jeanine Ruml 1959 in Kanada. Foto: Archiv der Familie Ruml

Dem Ehepaar Ruml wurde ein Sohn, Douglas, geboren. Die Familie zog nach Kalifornien, wo sich Karel Ruml als Jurist im Versicherungswesen etablierte. Nach seiner Pensionierung gingen die Rumls nach Ohio.

Der junge politische Flüchtling Vladimír Šilhart, der eine der Handbremsen des Fluchtzuges bewacht hatte, ließ sich in London nieder. In einem deutschen Flüchtlingslager hatte er zuvor Milena P. kennengelernt, die rund einen Monat nach ihm bei Asch zu Fuß über die Grenze geflüchtet war. Sie wurde seine Frau.

In die britische Hauptstadt ging auch die Familie von Dr. Jaroslav Švec. Der Ascher Arzt musste mit seiner Frau und seinen drei Söhnen einige Monate in deutschen Flüchtlingslagern ausharren, bevor sie sich in Großbritannien niederlassen konnten.

Das Ehepaar Miloslava und Jaroslav Švec. Foto: Archiv Kristýna Sovová

 

Die Söhne der Familie Švec. Foto: Archiv Kristýna Sovová

Familie Švec ernährte sich zunächst in London von manueller Heimarbeit. Frau Švecová fertigte unter anderem Korallenschmuck an. Später fand Doktor Švec eine fachliche Arbeit im medizinischen Bereich, die jedoch unter den Möglichkeiten seiner ärztlichen Ausbildung und Vorkarriere blieb. Nach rund drei Jahren in London wanderte Familie Švec nach Äthiopien aus. Dort erlebten sie zunächst einen Kulturschock, als sie feststellten, dass ihr neues Zuhause in Addis Abeba in einer Bambushütte bestand. Doch fanden sie unter den vielen Tschechen und Slowaken, die ab den 1950er Jahren in Äthiopien lebten, sozialen Anschluss, und Jaroslav Švec konnte als Arzt arbeiten. Dennoch sah sich Familie Švec gezwungen, mehrmals den Wohnort innerhalb Äthiopiens zu wechseln, da sie sich bespitzelt fühlte. Es ist eine erwiesene Tatsache, dass kommunistische Geheimagenten Gemeinden und Vereinigungen von Auslandstschechen in aller Welt infiltrierten. Die Chronistin der Familie, Kristýna Sovová, hat bei ihren Recherchen aufgedeckt, dass alle Umzüge der Familie an den tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienst berichtet wurden. Trotz der widrigen Umstände wurde Dr. Jaroslav Švec ein gefragter Arzt. Er brachte seine Expertise beim Bau von äthiopischen Krankenhäusern ein. Sein Ruf drang bis an den äthiopischen Kaiserhof. Eines Tages durften der Arzt und seine Frau dem Festakt zur Eröffnung eines neuen Krankenhauses Seite an Seite mit Kaiser Haile Selassie I. beiwohnen.

 

Das Ehepaar Švec (1. Reihe rechts) mit Kaiser Haile Selassie I. bei der Eröffnung eines neuen Krankenhauses. Foto: Archiv Kristýna Sovová

Zuletzt lebte Familie Švec im Osten Äthiopiens nahe der somalischen Grenze. Dort war die Lage wegen politischer Spannungen mit dem Nachbarland unsicher. Daher beantragten sie Visa für die Vereinigten Staaten - mit Erfolg. Nach rund einem Jahrzehnt in Äthiopien übersiedelten sie im Dezember 1965 nach Kalifornien. Dort begegneten sie Karel Ruml wieder. Später erlangten sie die amerikanische Staatsbürgerschaft und ließen sich in Michigan nieder.