Kapitel 2


Mit Volldampf in die Freiheit

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Passagiere mit besonderen Aufgaben

Pünktlich um 14:09 Uhr fuhr der Personenzug 3717 vom Bahnhof Eger / Cheb ab. Kurz vor der Abfahrt kletterte Karel Truksa auf die Lokomotive und gesellte sich zum Lokführer Jaroslav Konvalinka. Der Heizer Josef Kalabza, ein Kommunist, der von den Fluchtplänen nichts wusste, hatte nichts dagegen einzuwenden, dass Truksa auf der Lok mitfuhr. War ihm doch bekannt, dass Truksa und Konvalinka befreundet waren. Und schon rollte der Zug an.

Die erste Station nach Eger in Richtung Asch ist Franzensbad / Františkovy Lázně. Dort sprang Konvalinka von der Lok und hantierte an den Bremsleitungen. Er drehte den Hahn der Druckluftbremse zu. Truksa stellte sich neben ihn und sah ihm interessiert zu. Dem erstaunten Zugführer Bém erklärten die beiden, die Bremse funktionierte nicht richtig, sie müssten sie reparieren. In Franzensbad stiegen zahlreiche Kurpatientinnen zu, die einen Halbtagsausflug nach Asch machen wollten.

Als nächste und letzte Station vor Asch folgte der kleine Ort Haslau / Hazlov. Dort wartete der Ascher Arzt Jaroslav Švec mit seiner Frau Miloslava und den drei Söhnen des Ehepaares auf dem Bahnsteig. Der Wagen der Familie, ein schwarzer Tatra, parkte etwas abseits unter der Eisenbahnbrücke. Die Familie Švec lud viele Koffer und Taschen in den Zug. Einige Fahrgäste, die sie kannten, wunderten sich darüber. Der Arzt hatte jedoch eine plausible Erklärung zur Hand. Er sei zu Mittag mit seiner Familie in den Urlaub aufgebrochen. Doch in Haslau habe der Tatra plötzlich gestreikt! Also müssten sie jetzt mit dem Zug nach Asch zurückfahren. Familie Švec nahm im ersten Waggon Platz. Bevor Jaroslav Švec einstieg, gab er dem Lokführer ein Handzeichen. Konvalinka verstand: Das Gleis zwischen dem Ascher Bahnhof und der Grenze war frei. Švec hatte noch ein letztes Mal beim Ascher Bahnhof vorbeigeschaut, bevor er mit seiner Familie nach Haslau losfuhr.

Zwischen Hof an der Saale und Eger verkehrten auf der direkten Bahnverbindung über Selb-Plößberg und Asch 1951 nur noch zwei Güterzüge pro Tag. Sie brachten morgens und nachmittags Kohle aus der Tschechoslowakei für die oberfränkische Industrie. Andere Güter, wie Holz, Hohlglas und Kaolin, wurden vorwiegend über Schirnding befördert. Der Personenverkehr war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Strecke Hof - Eger nicht wieder aufgenommen worden. Bis zum Zweiten Weltkrieg war sie viel für private Besuche und regelmäßige Fahrten zur Arbeit genutzt worden. Täglich waren bis zu sieben Personenzüge hin- und hergefahren. Viele Familien hatten Verwandte jenseits der Grenze, und Menschen waren zur Arbeit in die Selber Porzellanindustrie oder umgekehrt in die Ascher Textilfabriken gependelt. Die direkte Bahnverbindung Hof – Eger war 1865 geschaffen worden, um die regionale Wirtschaft anzukurbeln.

Denkmalgeschütztes Stationsgebäude des Bahnhofs Selb-Plößberg. Foto: Maria Hammerich-Maier

Nach Asch sind es von Haslau neun Kilometer. Kurz nach dem Städtchen hielt der Zug inmitten von Wiesenland unvermutet an. Konvalinka und Truksa kletterten von der Lokomotive und machten sich erneut an der Bremse zu schaffen. Sie ließen die Luft aus den Bremsluftleitungen ab. Nun war die Notbremse vollkommen unbrauchbar.

Im dritten und letzten Waggon hörte ein junger Mann, der bereits seit Prag im Zug mitfuhr, mit angehaltenem Atem die dumpfen Schläge auf Metall. Obwohl er nicht viel von Eisenbahnen verstand, hatte er so seine Vermutungen, was sie bedeuten mochten.

Der junge Mann war Karel Ruml aus Nymburk an der Elbe. Ruml kam aus der gutbürgerlichen Familie eines Rechtsanwalts. 1949 wurde er im Zuge von Säuberungen an den Hochschulen wegen seiner „bourgeoisen“ Herkunft vom rechtswissenschaftlichen Studium an der Prager Karlsuniversität ausgeschlossen. Danach schloss er sich einem geheimen Netzwerk von Widerstandskämpfern an. Er wurde ungefähr zwei Jahre lang zur Überbringung von Geheimnachrichten auf der Etappe vom Grenzgebiet zu Polen bis nach Prag eingesetzt. Doch im Sommer 1951 lief irgendetwas schief. Karel Rumls Kontakt zu seinem Verbindungsmann brach ab. Seitdem lebte Karel Ruml in einer Art Gnadenfrist. Der Staatssicherheitsdienst folgte ihm dicht auf den Fersen. Er musste jeden Tag mit seiner Verhaftung rechnen. Und in diesem Fall drohten dem Dreiundzwanzigjährigen viele Jahre Haft oder schlimmstenfalls sogar die Todesstrafe. Einige seiner Freunde, die sich gegen die kommunistische Diktatur aufgelehnt hatten, darbten bereits im Kerker. Als einziger Ausweg verblieb Ruml die Flucht in den Westen.

Allerdings stand er vor einem ernsten Hindernis. Er hatte nicht genug Informationen über die aktuelle Lage an der Westgrenze, um selbstständig einen Fluchtversuch zu wagen. Doch dann tat sich am 8. September plötzlich eine Perspektive für ihn auf. Karel Rumls siebzehnjährige Freundin, genannt „Lada“, riet ihm, sich mit ihrem Onkel in Prag zu treffen. Dieser plane gerade ebenfalls die Flucht in den Westen.

Bei Ladas Onkel handelte sich um niemand anderen als František Šilhart. Die Zusammenkunft fand am Montag, dem 10. September, in dem Anzeigenbüro in Prag statt, bei dem František Šilhart beschäftigt war. Es war Rumls erste Begegnung mit Šilhart, er kannte ihn bis dahin nicht persönlich. Šilhart gab Karel Ruml alle Informationen, die er brauchte, um sich an dem Fluchtversuch beteiligen zu können. Und er legte ihm wärmstens ans Herz, die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Erst jetzt erfuhr Karel Ruml den Termin der geplanten Fluchtaktion. Sie war für Dienstag, den 11. September, angesetzt.

Ruml hatte nur wenige Stunden Zeit, um sich zu entscheiden. Er erkannte, dass dies seine letzte Chance war, den Schergen der kommunistischen Machthaber zu entrinnen. Schweren Herzens packte er das Allernötigste in einen Handkoffer. Seine Absicht, ins Exil zu gehen, vertraute er in der Nacht auf den Dienstag seiner krebskranken Mutter an. Sonst zog er niemanden ins Vertrauen. Als er am Morgen von seiner Mutter Abschied nahm, ahnte er, dass er sie nicht wiedersehen würde.

Nach einer schlaflosen Nacht ging Karel Ruml noch vor Tagesanbruch zu Fuß zum Bahnhof von Nymburk. Der Frühzug nach Prag ging um 5:45 Uhr von Nymburk weg. Lada blieb bis zum Prager Hauptbahnhof an seiner Seite. Dort wechselte Karel Ruml in den Kurbad-Zug nach Eger, der nach dem Fahrplan um 9:55 Uhr abfuhr. Um keinen Verdacht zu erregen, löste Karel Ruml die Fahrkarte nicht bis an den Grenzbahnhof Asch, sondern nur bis nach Franzensbad. Beim Lebewohl mit Lada kämpfte er gegen eine heftige Sehnsucht an, in seiner Heimat zu bleiben. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, und es gab kein Zurück mehr. Auf der sich unendlich ziehenden Fahrt nach Eger eilten Karel Rumls Gedanken ruhelos voraus:

„Ich hatte keine große Hoffnung, dass die Flucht gelingt, aber ich fühlte keine Angst – im Gegenteil, ich wartete fast ungeduldig auf die entscheidende, letzte Aktion. Auch wenn heute alles entgegen meinen Erwartungen gut ausging, rechnete ich trotzdem nicht damit, dass ich viele Jahre im Exil verbringen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine auf einer veralteten, unpraktischen Theorie gründende Diktatur in einem zivilisierten Kulturland lange aushalten könnte. Und wenn es vielleicht zu einem Weltkrieg kommt, will ich auf der Seite der Freiheit kämpfen…“, schrieb er später darüber in seinem Erinnerungsbuch "Aus dem Tagebuch des Freiheitszuges".

Auf dem Bahnhof Eger suchte sich Ruml einen Platz im letzten der drei Waggons des Personenzuges 3717, der nach Asch weiterfuhr. Kurz nach der Abfahrt trat ein Mann in Eisenbahneruniform in sein Abteil. Er stellte sich als Karel Truksa vor. Truksa war bereits über Rumls Teilnahme an dem Fluchtversuch informiert. Die beiden wechselten flüsternd ein paar Worte. Truksa wies Ruml an, sich vor Asch an der Handbremse seines Waggons zu postieren und jeden Versuch, diese zu betätigen, abzuwehren – nötigenfalls mit Gewalt. Ruml war für diese Aufgabe gerüstet. Er hatte die Pistole in der Jackentasche stecken, die als Widerstandskämpfer bekommen hatte. Im Umgang mit der Waffe war er zwei Jahre zuvor von seinem Verbindungsmann bei vielen Schießtrainings geschult worden.

Die Handbremsen in den beiden vorderen Sitzwagen waren ebenfalls mit Wachposten besetzt. Im zweiten Waggon bewachte Vladimír Šilhart die Handbremse. Im ersten Waggon begab sich Doktor Švec ein Stück vor Asch zum Rad der Handbremse. Auch Švec führte eine Pistole in der Manteltasche bei sich. Er hatte das historische Sammlerstück, das nicht mehr zuverlässig funktionierte, von Verwandten geliehen.