Kapitel 3


Ein gestrandeter Passagierzug aus der ČSR. Was nun?

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Nach der Ankunft in Selb-Plößberg

Um 16:05 Uhr traf der Personenzug Nr. 3717 mit dem roten Stern auf der Stirnseite der Lokomotive auf dem Bahnhof Selb-Plößberg ein. Nahezu eine Stunde, nachdem er mit Volldampf über die Staatsgrenze gebraust und in der Nähe des Schrankenpostens bei Wildenau zum Stehen gekommen war.

Einwohner der Region bestaunen den Fluchtzug in der Bahnstation Selb-Plößberg. Foto: Sammlung Wolfgang Martin

Bei der Weiterfahrt nach Selb-Plößberg fuhr der Bahnhofsvorsteher, Max Schmauß, auf der Lokomotive mit. Schmauß war bis zu seiner Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg Fahrdienstleiter auf dem Bayerischen Bahnhof Asch gewesen. Im Mai 1945 wurde Karel Truksa auf den Bahnhof Asch versetzt, von dort wechselte er 1950 an den Bahnhof Eger. Schmauß und Truksa waren also keine vollkommen Unbekannten füreinander. Truksa, der die Fluchtaktion mitorganisiert hatte, war zweisprachig. Er hatte Schmauß und die Beamten der Grenzpolizeistelle Selb schon beim ersten Halt des Zuges bei Wildenau über die Hintergründe der illegalen Grenzüberfahrt aufgeklärt.

Neben Schmauß waren noch mehrere Grenzpolizisten im Zug bei der Weiterfahrt nach Selb-Plößberg. Erwin Wagner, der Leiter der Grenzpolizeistelle Selb, traf in den Waggons erste Anordnungen: Wer in die Tschechoslowakei zurückkehren wollte, sollte nach der Ankunft auf dem Bahnhof im Waggon bleiben, die Asylsuchenden sollten aussteigen. Man nahm zu jenem Zeitpunkt noch an, dass der Zug noch am selben Tag in die Tschechoslowakei zurückgeschickt würde.

Die Beamten der Grenzpolizei überprüften die Zuginsassen während der Fahrt. Dabei stellten sie mehrere Waffen sicher. Ein uniformierter tschechischer Wachtmeister der Schutzpolizei, František Krahulec, führte eine Dienstpistole mit. Eine weitere Pistole wurde bei dem politischen Flüchtling Karel Ruml beschlagnahmt. Ein anderer Fahrgast, Jan Lobo, hatte 61 Schuss Munition des Kalibers 0,8 dabei, jedoch keine Waffe. Lobo erklärte den Grenzpolizisten, er sei im Urlaub gewesen und habe sich die Munition für seine zu seinem späteren Zeitpunkt geplante Flucht besorgt. In den folgenden Tagen entschied sich Jan Lobo jedoch, nicht mehr nach Hause zurückzukehren, sondern gleich in der US-Besatzungszone Asyl zu beantragen. Außer dem Polizisten waren noch zwei uniformierte Soldaten der tschechoslowakischen Grenzwacht unter den Fahrgästen.

Als der Zug in der Station Selb-Plößberg ankam, übernahmen Offiziere der US-Constabulary (US-Soldatenpolizei) die drei uniformierten Angehörigen der tschechoslowakischen Sicherheitskräfte und transportierten sie nach Hof an der Saale ab. Die Constabulary war mit drei Jeeps auf dem Bahnhof Selb-Plößberg aufgefahren. Zwei dieser Jeeps waren mit je einem Maschinengewehr bestückt.

Auf dem Bahnhof Selb-Plößberg hatten sich unterdessen schon mehrere US-Offiziere eingefunden, darunter Austin R. Martin, US-Resident-Officer des Kreisbüros Rehau der US-Militärverwaltung, sowie Major Gurs, leitender Offizier der in Hof stationierten Kräfte des Military Intelligence Service (Militärischer Aufklärungsdienst). Sie waren durch die Grenzpolizeistelle Selb von dem Vorfall an der Grenze verständigt worden. In den späten Abendstunden traf schließlich Oberst E. R. White auf dem Bahnhof Selb-Plößberg ein, Kommandeur der 15. Einheit der US-Constabulary, die in Weiden stationiert war.

In der Bahnstation Selb-Plößberg wurden die politischen Flüchtlinge von den unfreiwillig eingereisten Personen getrennt. Die Flüchtlinge wurden im Wartesaal dritter Klasse versammelt. Aus den Unterlagen der Grenzpolizeistelle Selb geht hervor, dass es sich um 27 Personen handelte, 18 Erwachsene, 2 Jugendliche und 7 Kinder. In den darauffolgenden Tagen entschieden sich allerdings noch einige andere Reisende, nicht mehr in die Tschechoslowakei zurückzukehren und in der amerikanischen Besatzungszone Asyl zu beantragen. Die 27 Flüchtlinge wurden in Kleingruppen mit Streifenwagen nach Selb gebracht. Dort wurden sie im Heim der Ortsgruppe des Roten Kreuzes untergebracht und verpflegt. Als Schlafgelegenheiten stellte man ihnen Tragbahren und Matratzen bereit.

In Selb wurden die Personalien der Flüchtlinge erfasst, und sie wurden von der Polizei vernommen. Bei diesen Vernehmungen traten wesentliche Einzelheiten über den Hergang und die Hintergründe der illegalen Grenzüberfahrt des Personenzuges zutage. Es stellte sich heraus, dass die Fluchtaktion von drei Personen organisiert worden war: dem Fahrdienstleiter des Egerer Bahnhofs Karel Truksa, dem Lokomotivführer Jaroslav Konvalinka und dem Ascher Amtsarzt Jaroslav Švec. Truksa und Konvalinka hatten die technische Seite der Grenzüberfahrt geplant und gesichert. Sie hatten alle Schritte genau abgestimmt. Dies äußerte sich nicht zuletzt darin, dass sich die Aussage des Lokführers Jaroslav Konvalinka in allen Punkten haargenau mit jener Karel Truksas deckte. Nur bei den Beweggründen, die sie für die Flucht nannten, unterschieden sich Konvalinka und Truksa. Ein Detail ihrer Aussagen ist besonders bemerkenswert. Beide gaben an, dass sie die Weiche in Asch vor der Flucht aufgeschnitten hätten. Diese Tatsache ist bis heute wenig bekannt.