Kapitel 1


Die Geburtsstunde des Freiheitszuges

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Wettlauf mit der Zeit

Fahrdienstleiter Karel Truksa erwartete den „Kurbad-Zug“ aus Prag am Bahnhof Cheb / Eger heute ungeduldiger als sonst. Er wusste, dass unter den Fahrgästen mehrere Personen waren, die mit großen Erwartungen nach Eger kamen. Sie waren kurz zuvor verständigt worden, dass sich ihnen eine Fluchtgelegenheit über Aš / Asch in den Westen bieten würde. Einige von ihnen saßen bereits von Prag an in dem Schnellzug. Zwei Fahrgäste waren Truksa besonders teuer: seine Frau und sein siebenmonatiger Sohn. Frau Truksová war mit dem Säugling in Pilsen zugestiegen. Sie hatte viel Reisegepäck dabei.

Das fiel in dem Schnellzug nicht weiter auf, der schon eine lange Strecke zurückgelegt hatte. Sein Ausgangsbahnhof war das ostslowakische Kaschau / Košice. Und am Hauptbahnhof Prag waren viele weitere Fahrgäste dazugekommen. Menschen aus der ganzen Tschechoslowakei nutzten diese Bahnverbindung, um zu Kuraufenthalten nach Marienbad / Mariánské Lázně, Königswart / Kynžvart oder Franzensbad / Františkovy Lázně anzureisen.

Es war ein spätsommerlich milder, freundlicher Dienstag. Man schrieb den 11. September 1951. Für Karel Truksa sollte dieser Tag den Gipfel- und Endpunkt einer Lebensphase bilden. Diese begann unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Truksa wurde von seinem Dienstgeber, den Tschechoslowakischen Staatsbahnen, aus dem Landesinneren ins westliche Grenzland versetzt. Er arbeitete dort einige Jahre am Bahnhof Asch, der früher auch als „Bayerischer Bahnhof“ bezeichnet worden war.

In den Grenzgebieten äußerte sich der historische Umbruch nach dem Zweiten Weltkrieg besonders drastisch. Für viele Menschen brachte er tiefe Einschnitte und gewaltige Bürden mit sich. Die Kriegszerstörungen, die Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung, die Machtergreifung der Kommunisten in der Tschechoslowakei im Februar 1948, die nachfolgenden politischen Säuberungen, alle dies war begleitet von Not, Rechtlosigkeit, Gewalt, persönlicher Tragik und großem menschlichem Leid. Viele Menschen kamen unverschuldet zu Schaden. Zudem strömten unablässig Flüchtlinge ins Grenzland, die über die Westgrenze zu gelangen trachteten. Eine ihrer Hoffnungen und eines der Mittel dazu war die Bahn. Karel Truksa erlebte an seinem Ascher Dienstort, der nur einige Hundert Meter von der Staatsgrenze entfernt lag, unmenschliche Grausamkeiten mit, die heute geradezu unvorstellbar erscheinen. Einige dieser Gräueltaten an wehrlosen Menschen beschrieb Truksa noch im Herbst 1951 in seiner Autobiographie, als er bereits im Exil war:

Während seines Dienstes am Ascher Bahnhof machte Karel Truksa die Bekanntschaft des Lokomotivführers Jaroslav Konvalinka. Konvalinka war ähnlich wie Truksa nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Landesinneren ins westliche Grenzland verlegt worden. Am 8. Oktober 1945 begann er am Bahnhof Eger zu arbeiten. Dieser war gegen Kriegsende bei einem Luftangriff zerstört worden. Anstelle des früheren Bahnhofsgebäudes dienten nun behelfsmäßige Holzbaracken als Dienst- und Warteräume. Ein Vierteljahr später folgte ihm seine Familie nach. Jaroslav Konvalinka lebte mit seiner Frau Růžena, den beiden Kindern sowie seiner verwitweten Mutter in Eger.

Egerer Bahnhof um 1930

Ein provisorischer Holzbau ersetzte das zerstörte Banhofsgebäude bis 1956. Foto: SOkA Cheb.

Die beiden Bahnbediensteten verbanden weltanschauliche Gemeinsamkeiten. Sie teilten die Empörung über die rüden Praktiken, die im Zuge des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs oft an den Tag gelegt wurden. Die kommunistische Partei setzte ihren Machtanspruch mit brachialer Gewalt durch. Wer sich ihren Zielen widersetzte, wurde aus dem Weg geräumt. Für Truksa und Konvalinka waren diese barbarischen Zustände nicht hinnehmbar. Sie beschlossen, die Rechtlosigkeit und Gewalt, die an der Tagesordnung waren, nicht untätig mitanzusehen:

„Nach einer Unterredung mit Jarda [Jaroslav Konvalinka] beschlossen wir, einigen Unglücklichen zu helfen und sie über die Grenze zu befördern, da wir eine einzigartige Gelegenheit dazu hatten. Während meines Aufenthaltes in Asch hatte ich mich gründlich mit der Grenze bekannt gemacht, sodass unsere Wege sowohl mit der Bahn als auch zu Fuß gehen konnten. Und schon ist der erste Mensch da, einige Tage darauf der zweite, dann wieder welche, langsam wächst die Zahl der von uns über die Grenze gebrachten Personen,“ schrieb Truksa später in seiner im Herbst 1951 in den Vereinigten Staaten erschienen Autobiographie "Zur Sonne der Freiheit".

Am 19. November 1949 wurde Karel Truksa festgenommen. Er kam wegen des Verdachts, Menschen zu illegalen Grenzübertritten verholfen zu haben, ins Egerer Gefängnis in Untersuchungshaft. Es lagen jedoch keine direkten Beweise gegen ihn vor. Man versuchte mit Foltermethoden, ein Geständnis zu erzwingen. Doch plötzlich wendete sich das Blatt zu Truksas Gunsten. Eines Tages suchte ihn der Gefängnisarzt auf, Doktor Jaroslav Švec. Truksa kannte den beliebten Ascher Amtsarzt bis dahin nur flüchtig. Zu seiner Verblüffung flüsterte ihm Švec ins Ohr, er solle durchhalten und alle Vorwürfe bestreiten, denn er käme bald frei. Am 10. März 1950 wurde Karel Truksa tatsächlich mangels Beweisen entlassen. Er blieb jedoch unter Beobachtung durch den Staatssicherheitsdienst. Bald darauf wurde er an den Bahnhof Eger versetzt.

Truksa und Konvalinka standen nun dienstlich in ständigem Kontakt miteinander. Obwohl sie bereits im Verdacht illegaler Aktivitäten standen, setzten sie ihr Engagement im antikommunistischen Widerstand fort. Truksa sah sich durch die Erfahrungen, die er im Kerker machte, sogar noch in seiner Überzeugung bestärkt, dass die kommunistische Diktatur unter allen Umständen bekämpft werden müsse. Er und Konvalinka stellten sich in den Dienst einer organisierten Widerstandsgruppe:

„Ich und Jaroslav schlossen uns dann einer Untergrundgruppe an, der ich meine Entlassung aus dem Gefängnis verdankte. Und wir erfüllten aus allen Kräften sämtliche Befehle, die uns von dieser Organisation erteilt wurden.“

In dieser extremen Gefährdungslage begannen die beiden Weggefährten darüber nachzudenken, wie sie selbst in den Westen flüchten könnten, falls ihnen erneut eine Verhaftung drohte. Sie erwogen verschiedene Wege, wie eine Flucht mit der Lokomotive oder einem Güterzug. An einen Passagierzug als Fluchtmittel dachten sie jedoch zu jenem Zeitpunkt noch nicht.

Truksa hatte inzwischen geheiratet, und Anfang 1951 kam sein Sohn zur Welt.

Im Frühjahr 1951 wurde Karel Truksa von einem Mitglied seiner Widerstandsgruppe darauf hingewiesen, dass er erneut unter verschärfter Beobachtung des Staatssicherheitsdienstes stehe. Die Sorge um seine junge Familie war groß. Wäre Karel Truksa gefasst und verurteilt worden, hätte gedroht, dass ihm und seiner Frau das Sorgerecht für ihren kleinen Sohn entzogen und dieser in einem staatlichen Erziehungsheim untergebracht würde. Um Schaden von der Familie abzuwenden, griff das Ehepaar Truksa zu einem Trick: Es begann die Scheidung zu planen, und Frau Truksová zog mit dem Kind zu den Eltern zurück.