Kapitel 4


Rückkehr und Aufbruch

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Stunde der Entscheidung

Am 12. September ordnete das Europäische Hauptquartier der Vereinigten Staaten den Abtransport der rückkehrwilligen Zuginsassen auf den Truppenübungsplatz Grafenwöhr in der Oberpfalz an. Begründet wurde dies damit, dass die Entscheidung über ihre Rückführung noch längere Zeit in Anspruch nehmen könnte und dass in Grafenwöhr feste Unterkünfte für sie bereitstünden. Die US-Constabulary Weiden besorgte den Transport mit Lastkraftwagen und Pkw der US-Armee. Gegen Abend trafen die Militärfahrzeuge auf dem Bahnhof Selb-Plößberg ein, und um 18:35 Uhr fuhr der Konvoi mit 84 Personen in Richtung Grafenwöhr ab.

Eine der Passagierinnen des Fluchtzuges, die auf den Ladeflächen der LKWs Platz nahmen, war die damals fünfzehnjährige Milena Šnáblová. Frau Šnáblová übersiedelte später nach Prag. Sie gab mehrere Interviews für die Presse über ihre Erlebnisse im Zusammenhang mit der Zugfahrt am 11. September 1951. Ich selbst konnte mit Frau Šnáblová 2015 im Zuge der Recherchen für ein Drehbuch über den Freiheitszug sprechen, das ich für den Tschechischen Rundfunk verfasste. Über ihre ersten Eindrücke vom Truppenübungsplatz Grafenwöhr erzählte sie:

„Dort [in Grafenwöhr] war es schön. Es herrschte eine vorbildliche Sauberkeit. Weiß bezogene Betten, auf jedem lag ein Handtuch, Zahnpaste, ein Kamm, Seife und eine Zahnbürste. Das war angenehm für uns, wir fühlten uns nicht mehr ganz so herabgesetzt. Wir gingen uns gleich waschen. Dann luden uns die Amerikaner in die Kantine ein, dort bekamen wir etwas zu essen. Es war die erste ordentliche warme Mahlzeit. Ich habe dort zum ersten Mal im Leben ein Steak gegessen, dazu gab es Kartoffeln und Gemüse.“


Milena Šnáblová. Foto: Petr Przeczek

Am folgenden Morgen wurden die Neuankömmlinge ermuntert, sich die Zeit mit Sport zu vertreiben. Doch bei allem, was sie taten, schwebte stets eine Frage über ihren Köpfen: Rückkehr oder Exil? Die Gelegenheit zu nutzen, um im Westen abzuspringen, erschien besonders manchen Jugendlichen verlockend. So auch Milena Šnáblová. Ihre Familie war mit einem Mitorganisator der Flucht, dem Ascher Arzt Jaroslav Švec, und dessen Familie gut bekannt. Milena Šnáblová hätte im Exil auf ihre Unterstützung zählen können. Schließlich wurden die Neuankömmlinge nacheinander von US-Offizieren befragt. Man stellte ihre Personalien fest, erkundigte sich, was sie von der Fluchtaktion hielten und welches Bild sie von Deutschland hätten. Dann stellte man die entscheidende Frage: Ob sie in Deutschland bleiben oder in die Tschechoslowakei zurückkehren wollten, und warum. Als die Reihe an Milena Šnáblová kam, sprach sie sich für die Rückkehr aus:

„Ich war ein fünfzehnjähriges Mädchen. Ich wollte ebenso wie meine Mitschülerinnen nach Hause. Was hätte ich auch dort gemacht. Obwohl mich Herr Švec schon am Bahnhof Selb zu überreden versuchte, nicht zurückzukehren. Er sagte, er würde sich um mich kümmern; und ich solle keine Angst haben, ich würde nicht lange in Deutschland allein bleiben. Meine Familie würde nachkommen. Doch ich konnte mir das nicht vorstellen. Auch hatten wir zu Hause einen herrlichen Konzertflügel. Meine Verwandten hatten dafür 1925 glatte 20.700 tschechische Kronen bezahlt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Vater, der ein begeisterter Musiker war, es über sich bringen würde, sich von diesem Flügel zu trennen. Also fuhr ich wieder nach Hause. Papa sagte mir aber später, sie wären nachgekommen, Flügel hin oder her. Ich kann nicht sagen, dass er mich nicht gelobt hätte, weil ich zurückkam, aber andererseits sagte er, ich hätte ruhig dort bleiben können. Noch heute frage ich mich manchmal, ob das nicht besser gewesen wäre.“

Ihre gleichaltrige Mitschülerin Marie K. hörte während der Nacht und des Tages, die sie in Grafenwöhr verbrachten, endlose Diskussionen ihrer Mitreisenden mit an, die stets um ein- und dasselbe Thema kreisten: bleiben oder heimkehren? Als sie wieder daheim war, schrieb sie ihre Beobachtungen nieder. Die Aufzeichnungen von Marie K. geben eine Vorstellung von dem aufgeregten Orakeln über die Zukunft, das manche Mitreisenden erfasste. Zwei der Mitbewohnerinnen, mit denen Marie K. das Zimmer in Grafenwöhr teilte, blieben in Deutschland, ebenso wie vier Schüler des Egerer Gymnasiums.

Die vier Schüler der Abschlussklasse des Egerer Gymnasiums, die sich für das Exil entschieden, wogen also die Vor- und Nachteile einer Zukunft in der westlichen Welt bewusst ab. Sie waren aber auch in ein Dilemma geraten, das ihre Entscheidung für das Exil beeinflusst haben dürfte. Wegen freimütiger Äußerungen, die sie in Interviews mit Reportern von Radio Freies Europa gemacht hatten, mussten sie im Falle einer Rückkehr in die Tschechoslowakei mit Sanktionen rechnen, die ihre Zukunftsaussichten dauerhaft schmälern konnten.

Dass ihre Befürchtungen nicht grundlos waren, zeigten die Strafmaßnahmen, die bald darauf über ihre Lehrer und Eltern verhängt wurden. Die Geschichtsprofessorin der abgesprungenen Schüler musste das Egerer Gymnasium verlassen. Man warf ihr vor, die Gymnasiasten nicht hinreichend im sozialistischen Geist erzogen zu haben. Sie musste aus dem Grenzland ins Landesinnere umziehen, wo sie nur mehr eine Stelle als Grundschullehrerin bekam. Der Direktor des Egerer Gymnasiums und die Eltern der abgesprungenen Gymnasiasten wurden ebenfalls mit einem Aufenthaltsverbot in allen Grenzkreisen belegt, was zur Folge hatte, dass sie ihren bisherigen Wohnsitz und Arbeitsplatz aufgeben mussten. Ihr Leben war fortan durch das Stigma der politischen Unzuverlässigkeit beeinträchtigt, was ihnen handfeste Nachteile bei der beruflichen Laufbahn und behördlichen Entscheidungen eintragen konnte. Dieser Umstand mag zu den glühenden Loyalitätsbekundungen beigetragen haben, die eine der Mütter in einem öffentlichen Bittbrief verzweifelter Eltern zum Ausdruck brachte, in dem sich die Eltern vertrauensvoll mit einem Appell an den Vizekanzler und Außenminister der Tschechoslowakei, Viliam Široký, wandten.

Die vier Gymnasiasten erhielten Asyl in Kanada und reisten Mitte Oktober zusammen mit anderen Geflüchteten des Freiheitszuges dorthin aus.

Insgesamt entschlossen sich von den 84 Tschechoslowaken, die am 12. September aus Selb-Plößberg nach Grafenwöhr gebracht worden waren, noch sieben Personen, in Deutschland zu bleiben und politisches Asyl in einem westlichen Land zu beantragen.