Rache fressen Seele auf

Der Schriftsteller Jiří Stránský und langjährige Vorsitzende des tschechischen PEN-Clubs hatte mit der Entführung des tschechoslowakischen Passagierzuges am 11. September 1951 nach Bayern gar nichts zu tun. Dennoch wurde er im Zusammenhang damit zu acht Jahren Haft verurteilt. Jiří Stránský wurde von František Šilhart, der die Zugentführung mitinitiierte, bei Vernehmungen 1952 durch falsche Anschuldigungen belastet.

František Šilhart hatte bei polizeilichen Vernehmungen unter Folterqualen „ausgepackt“. Sein Sohn Vladimír beschrieb 2001 in einem Bericht der Wochenzeitschrift Reflex, wie man sich solche Verhöre vorzustellen hat und was von den „Wahrheiten“ die sie zutage förderten, zu halten war: „Er wurde an den Stuhl gefesselt, dort saß er lange Stunden, angestrahlt von grellen Scheinwerfern, und die Geheimpolizisten schlugen ihm alle Zähne aus.“ [5, 56]. Šilhart belastete Jiří Stránský und ein Dutzend weiterer Angestellte seines Prager Anzeigenbüros mit Aussagen über angebliche staatsfeindliche Aktivitäten.

Am 16. Januar 1953 wurde Jiří Stránský verhaftet. In Boris Dočekals Buch „Geschichten tschechischer Adeliger“, das 2006 in Iglau / Jihlava erschien, berichtet er, dass ihn Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes fast zu Tode geprügelt hätten, damit er die gegen ihn erhobenen Vorwürfe einräumte. An diesen sei nichts Wahres gewesen.

Jiří Stránský war Mitgliedschaft in einer verschwörerischen Vereinigung vorgeworfen worden. Die Anklage lautete auf Hochverrat und Spionage. Der Strafrahmen für diese Verbrechen reichte von zehn Jahren Haft bis zur Todesstrafe.

Šilhart hatte erklärt, seine Gruppe habe Jiří Stránský nach Westdeutschland geschickt, um ihn unter anderem im Umgang mit Funkgeräten zu schulen. Stránský machte jedoch zur fraglichen Zeit Schiurlaub in den Bergen und arbeitete dort als Schilehrer. Ein weiterer Anklagepunkt behauptete, Stránský habe Pläne eines geheimen Munitionslagers angefertigt und verraten, das sich in Hohlräumen einer Anhöhe befand. Dieser Vorwurf war laut Stránský ebenfalls völlig aus der Luft gegriffen; er konnte ihn sich nur durch eine Skizze des Weges zu einer Druckerei erklären, die er einmal besessen hatte. Der Prozess gegen Jiří Stránský fand im Juli 1953 statt. Da Stránský zum Zeitpunkt seiner angeblichen Verbrechen noch keine einundzwanzig Jahre alt war, galt er als Heranwachsender und erhielt eine mildere Strafe nach dem Jugendstrafrecht.

Gegen Ende der 1950er Jahre begann man, manche unrechtmäßigen Prozesse des vergangenen Jahrzehnts zu revidieren. Jiří Stránskýs Vater Karel, Jurist von Beruf, beantragte eine erneute Vernehmung František Šilharts. Bei dieser korrigierte Šilhart 1958 seine frühere Aussage und entlastete Jiří Stránský. Zu spät für Stránský, um das Unrecht, das ihm widerfuhr, abzwenden. Stránský verbüßte damals gerade in einem Arbeitslager die achtjährige Haftstrafe, die ihm wegen Šilharts Anschuldigungen aufgebrummt worden war. Ein Gnadengesuch verweigerte Stránský, da es einem Schuldeingeständnis gleichgekommen wäre. Er wurde erst im Mai 1960 im Zuge einer Amnestie freigelassen – mit einer Bewährungsfrist von zehn Jahren und dem Stigma eines Gesetzesbrechers, das ihn weitere drei Jahrzehnte ganz erheblich in der Lebensführung einschränkte.

Jiří Stránský war in einem sozialen Umfeld mit entschieden antifaschistischer und antikommunistischer Gesinnung herangewachsen. Geboren wurde er am 12. August 1931 in Prag. Sein Vater Karel Stránský stammte aus einer adeligen Familie und war von Beruf Anwalt. Die ebenfalls hochgebildete Mutter war die Tochter Jan Malypetrs, eines Parlamentsabgeordneten der konservativen Agrarpartei. Karel Stránský war während des Zweiten Weltkriegs im KZ Auschwitz inhaftiert gewesen, im Herbst 1948 wurde er von den Kommunisten verhaftet. 1952 wurde der Familienbesitz der Stránskýs im vornehmen Prager Villenviertel Hanspaulka beschlagnahmt, die Familie durfte sich nur noch mindestens 30 Kilometer außerhalb von Prag niederlassen. Jiří Stránský erhielt eine erstklassige Bildung. Er sprach drei Fremdsprachen, besuchte einige Monate lang eine englische Schule in der Schweiz und nahm 1946 an einem internationalen Pfadfindertreffen bei Paris teil. Sein Abitur an einem Prager Gymnasium wurde jedoch kurzfristig unterbunden. Im August 1950 begann er bei der Reklameagentur Čedok – Propag in Prag zu arbeiten. Sein Chef dort war niemand anders als František Šilhart.

Jahre später begegnete er František Šilhart in einem Lager wieder. Šilhart sei vor lauter Schreck durch ein geschlossenes Fenster gesprungen, berichtete Stránský später, der auch einräumte, zunächst auf Rache gegen Šilhart gesonnen zu haben. Erfahrene Mithäftlinge hätten ihn jedoch von der Rachsucht geheilt. Er habe begriffen, dass die Rache einen Menschen aufzehren könne. Stránský durchlief zunächst verschiedene Gefängnisse, dann wurde er in Arbeitslager in der Gegend von Horní Slavkov / Schlaggenwald und Jáchymov / Joachimsthal geschickt, wo er unter gesundheitsschädlichen Bedingungen im Uranbergbau arbeiten musste. Während seiner Haft lernte Jiří Stránský mehrere Intellektuelle und Schriftsteller kennen. Diese Begegnungen festigten seinen Entschluss, selbst Schriftsteller zu werden.

In seinen literarischen Werken setzte sich Stránský mit Themen wie Moral, Vereinsamung, Gedächtnis und persönlichem Bewusstsein auseinander. In der Erzählsammlung „Glück“ („Štěstí“) verarbeitete Stránský Episoden aus dem Milieu der kommunistischen Strafanstalten. Das Buch erschien 1969, wurde jedoch kurz darauf verboten.

Nach der Haftentlassung war Jiří Stránský als manueller Arbeiter beschäftigt, eine bessere Anstellung konnte er aufgrund seiner Stigmatisierung nicht bekommen. Nebenbei arbeitete er gelegentlich als Regieassistent, Bühnenarbeiter und Verfasser von Drehbüchern. Nach der Samtenen Revolution vom 17. November 1989 wurde Stránský freier Schriftsteller, zugleich wirkte er als Leiter der Auslandsabteilung des Tschechischen Literaturfonds. 1992 wurde Jiří Stránský zum Präsidenten der tschechischen Zweigstelle des PEN-Clubs gewählt. Stránský veröffentlichte Glossen, Kommentare und Feuilletons für Rundfunk und Presse, übersetzte literarische Werke aus dem Englischen, verfasste Filmdrehbücher und Hörspiele. Weithin bekannt ist sein Roman „Verwildertes Land“ („Zdivočelá země“). Er entstand 1970 und handelt von der Besiedlung des tschechischen Grenzlandes und dessen Plünderung und Verwüstung nach der Vertreibung der Sudetendeutschen. Der Roman wurde ab 1997 für eine mehrteilige Serie des Tschechischen Fernsehens verfilmt.

Bereits in der ersten Phase seiner Haft lernte Stránský den bedeutenden katholischen Dichter Jan Zahradníček im Gefängnis Prag-Pankrác kennen. Zahradníček soll zu ihm gesagt haben: „Vielleicht kommt einmal eine Zeit, in der Sie sich nur noch in Versform ausdrücken möchten.“ Auf dieses Zitat beruft sich Stránský im Nachwort zu seinem Gedichtband „Hinter dem Zaun“ („Za plotem“):

„Dieser Augenblick kam, als ich im Uranbergwerk beinahe an einer Vergiftung durch Sprengschwaden gestorben wäre und nach oben auf die Halde versetzt wurde. Dort entstanden diese Gedichte. Ich schmuggelte sie mit Hilfe mutiger ziviler Bergmänner, die zusammen mit uns in den Schacht einfuhren, hinaus. Sie riskierten viel dadurch, dass sie diese Blätter an sich nahmen und versteckten. Die Gedichte sind Botschaften eines Prosaikers, der in einer ganz bestimmten Lebenslage zur Lyrik greifen musste, denn das, was er empfand und sagen wollte, ließ sich durch Prosatexte nicht ausdrücken.“

Die Gedichte entstanden in der letzten Station von Stránskýs langem Marsch durch Gefängnisse und Arbeitslager, dem Lager Bytíz bei der mittelböhmischen Stadt Příbram, in dem Stránský von 1956 bis 1960 inhaftiert war. Die Gedichte lagen Jahrzehnte lang in der Schublade, bis Stránský sie 1999 zu dem Band „Hinter dem Zaun“ arrangierte und veröffentlichte. Darin sind die Gedichtzyklen „Einundzwanzig Jahre“ und „Schnee“ enthalten, denen die beiden folgenden Textproben entnommen sind.

Verse aus dem Gedichtzyklus „Einundzwanzig Jahre“:

Damit das klar ist
hier hinter dem Zaun geht’s überhaupt nicht mehr
um Schuld und Unschuld
und eigentlich auch nicht mehr um das Leben
Denn wozu ist eine solche Unschuld gut
in die Stummheit der Wachtürme geschrien
(die hier in aller Ruhe seit dem Krieg ausharren)
wenn sie an deren Wachsamkeit
die mit scharfer Munition zielt
Jedes Mal in Fetzen zerrissen wird?
Wozu ist eine solche Unschuld gut
die du Hunderte Meter unter er Erde
der Taubheit des Gesteins
und dem Brüllen der Bagger sagst?

Verse des Gedichts „Dort unten“ aus dem Gedichtzyklus „Schnee“:

Das Lager
Dorf in drahtener Umarmung
Ja
Oftmals erschossen die Gewehre
selbst noch die Hoffnung

Bis auf den Grund hinab
tiefe Klüfte der Hoffnungslosigkeit
und Verzweiflung und Tränen und Resignation
in Schweiß und Blut kletterte ich hinab
auf der Leiter der eigenen Nerven

Erst dort unten am Grund
als ich tot emporblickte
und nur einen winzigen blauen Punkt
an Himmels statt erspähte
erweckte mich die zarte Hoffnung
dass immerhin dieser blaue Punkt
mir gehört

(Übersetzung der Verse: Maria Hammerich-Maier)

Quellen:
Dočekal, Boris: Příběhy českých šlechticů (Geschichten tschechischer Adeliger). Jihlava 2006, S. 82-85.
Lukeš, Jan: Srdcerváč. Rozhovor se spisovatelem a scénaristou Jiřím Stránským (Herzensbrecher. Gespräch mit dem Schriftsteller und Drehbuchautor Jiří Stránský). Havlíčkův Brod 2005.
Pečinka, Bohumil: Causa Vlak Svobody II (Die Sache des Freiheitszuges, Teil II). In: Reflex 36/2001, S. 56.
Stránský Jiří: Za plotem (Hinter dem Zaun). Havlíčkův Brod 1999.