Kapitel 4


Rückkehr und Aufbruch

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Wieder daheim

Die 77 Rückkehrer wurden am 13. September an die tschechoslowakischen Behörden übergeben. Die Übergabe wurde tagsüber von verantwortlichen US-Offizieren aus Weiden und Grafenwöhr in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Landesgrenzpolizeistelle Selb minutiös vorbreitet und mit den tschechoslowakischen Behörden koordiniert. Unter anderem wurden aktualisierte Listen der rückkehrwilligen Personen erstellt.

Eine der Rückkehrerinnen war die Schülerin Zdenka Hýblová. Die gebürtige Pragerin war nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Familie nach Asch gezogen. Zdenka Hýblová hegte schon seit Längerem die Absicht, in den Westen zu flüchten. Sie wollte zusammen mit einer Freundin und einem Freund flüchten, die sich wie sie aktiv gegen das totalitäre kommunistische Regime wehrten. Regimekritische Aktivitäten Jugendlicher, wie die Herstellung und Verteilung illegaler Flugblätter, gab es damals vielerorts. Bereits 1949 wurde beispielsweise deswegen in Saaz / Žatec gegen Gymnasiasten ermittelt. Eine der Schülerinnen, die in Saaz ins Visier des Staatssicherheitsdienstes gerieten, befand sich am 11. September ebenfalls im Nachmittagszug von Eger nach Asch, wo sie wohnte. Diese Schülerin, V. K., entschied sich für das Exil. Zdenka Hýblová fuhr hingegen zunächst heim – um rund einen Monat später mit ihren beiden KameradInnen zu Fuß über die Grenze nach Bayern zu flüchten. Die Flucht der drei Jugendlichen schlug nicht zuletzt wegen ihrer Vorgeschichte, die mit dem Freiheitszug verknüpft war, erneut hohe Wellen in der einheimischen wie der internationalen Presse. Das Rehauer Tagblatt berichtete darüber am 23. Oktober unter dem Titel „Ein Herz schlug durch den Eisernen Vorhang“, und das New Yorker Wochenmagazin Time knüpfte mit einer Geschichte über Zdenka Hýblová und ihre Freunde an den ausführlichen Bericht an, den es einen Monat zuvor dem Freiheitszug gewidmet hatte.

Zdenka Hýblová begann später in New York, Gedichte und Erzählungen zu schreiben. Die Stoffe ihrer literarischen Werke beziehen sich vielfach auf ihre frühen Jahre in der Tschechoslowakei, dabei thematisierte die Schriftstellerin, die unter ihrem amerikanischen Ehenamen Zdena Hyblova Heller publizierte, auch das politische Engagement der Jugend im Dienste der Menschlichkeit.


Rückkehrer bei der Abfahrt aus Grafenwöhr. Foto: US National Archives, Sgt. Loveland

Am Nachmittag des 13. Septembers wurden die 77 Tschechoslowaken mit vier Omnibussen der US-Armee bis in die Grenzgemeinde Wildenau gebracht. Die Busse hielten bei der Waldspitze ungefähr einen halben Kilometer vor der Staatsgrenze. Von dort wurden die Omnibusse einzeln durch bayerische Grenzpolizisten bis zum Schlagbaum geleitet. Alle Rückkehrer wurden einzeln aufgerufen und gegen Unterschrift gruppenweise an Vertreter der tschechoslowakischen Behörden übergeben. Gleichzeitig mit den Personen wurden die Sachen aus dem Packwagen des Fluchtzuges übergeben.

Die Übergabe begann um 17 Uhr an der Grenze bei Wildenau. Unmittelbar davor wurde für die Erledigung der Formalitäten ein Tisch präzise auf der Grenzlinie aufgestellt. Ein auf der tschechoslowakischen Seite der Grenze ausgehobener Panzergraben war dafür eigens auf einer Breite von einigen Metern zugeschüttet worden. Auf diesem Steg überschritten die Rückkehrer nacheinander die Grenze in ihr Heimatland.

Der Leiter der Grenzpolizeistelle Selb, Erwin Wagner, der bei der Übergabe zugegen war, bemerkte, dass diese „frostig“ verlaufen sei. Einmal musste sie unterbrochen werden. Reporter hatten die anwesenden tschechoslowakischen Offiziere gefilmt. Der Film musste daraufhin vernichtet werden. Als die Übergabe beendet war, erkundigten sich die Vertreter der tschechoslowakischen Behörden nach zwei weiteren Personen, die sie noch vermissten. Gemeint waren zwei der drei uniformierten Angehörigen der Sicherheitskräfte, die im Fluchtzug mitgefahren waren. Von dem dritten Uniformierten hatten die tschechoslowakischen Behörden offenbar keine Kenntnis.

Die zwei uniformierten Soldaten der Grenzwacht und der Wachtmeister der Ascher Polizei František Krahulec waren unmittelbar nach der Ankunft des Passagierzuges auf bayerischem Gebiet festgenommen und von US-Soldaten zum Military Intelligence Service (Militärischer Aufklärungsdienst) in Hof gebracht worden. Am 14. September 1951 wurden sie aus dem Arrest in Hof in das amerikanische Militärgefängnis in Weiden überstellt, wo sie bis zum 20. September blieben. Einer der beiden Grenzsoldaten, ein Slowake, entschied sich während dieser Zeit für das Exil. Sein tschechischer Kollege von der Grenzwacht sowie Wachtmeister František Krahulec wurden am Grenzübergang Waidhaus / Rozvadov in die Tschechoslowakei überstellt. Ein Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes nahm sie auf tschechoslowakischem Gebiet in Empfang.


Ein Soldat und ein Polizist werden von der deutschen Grenze bei Waidhaus zur tschechoslowakischen
Kontrollstelle eskortiert. Foto: US National Archives, Sgt. Rishel

Krahulec, der bald darauf zum Oberwachtmeister befördert wurde, beschrieb seine verstörenden Erfahrungen in amerikanischer Gefangenschaft in einem tendenziösen Erlebnisbericht in der Tageszeitung Rudé právo (Rotes Recht). Der Artikel mit der Überschrift „Ich habe die amerikanische Lebensart kennengelernt“ kam einem persönlichen ideologischen Bekenntnis gleich.

Mit dem Betreten heimischen Bodens war die unfreiwillige Ausreise nach Bayern für die Rückkehrer noch nicht ganz zu Ende. Sie hatte ein unerwartetes Nachspiel. Die heimgekehrten Reisenden und das Zugpersonal wurden von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes verhört. Für manche blieb es bei einem Verhör, andere wurden mehrmals befragt. Die Art, wie die Verhöre inszeniert wurden, wurde von mehreren Betroffenen als demütigend und einschüchternd beschrieben. Das Ergebnis war, dass von Asch bis Eger bald niemand mehr wagte, auch nur ein Wort über die Affäre zu verlieren. Die Zeitzeugin Milena Šnáblová vermittelte in einem ihrer Interviews für die tschechische Presse ein eindrückliches Bild davon, wie mit den Rückkehrern umgegangen wurde.

Die Grundschullehrerin Gerta Adlerová Fröhlichová wurde ähnlich wie Milena Šnáblová mehrmals vernommen. Geheimpolizisten hatten ihre Eltern bereits vor ihrer Rückkehr aus Bayern aufgesucht und sie über Gerta ausgefragt. Nach der Rückkehr nötigte sie der Staatssicherheitsdienst, zu einem Interview für den Tschechoslowakischen Rundfunk nach Prag zu fahren.

Gerta Adlerová Fröhlichová war eine von fünf unbeteiligten Insassen des Fluchtzuges, die im Rundfunk zu Wort kamen. Die Interviews wurden zu einem halbstündigen „Gespräch mit Bürgern, die am 11.9.1951 von einer Terroristengruppe nach Bayern entführt wurden“ zusammengefügt; so der Titel der propagandistischen Sendung, die rund eine Woche nach der Zugentführung ausgestrahlt wurde. Außer Gerta waren der Heizer Josef Kalabza, die Arbeiterin Anna Pubáková, der Schlosser Jaroslav Hála sowie ein deutscher Einwohner von Asch, Hans Uhl, in das Prager Rundfunkstudio gebeten worden. Die tendenziös ausgewählten Gesprächspassagen wurden in verzerrende Kommentare eingebettet. So zum Beispiel hieß es in einer Überleitung des Moderators zwischen zwei Gesprächspassagen von Gerta Adlerová Fröhlichová, sie habe geschildert, wie sich „Anführer der Terroristen mit deutschen Terroristen begrüßten und wie verräterische Elemente unsere Bürger überredeten, in Westdeutschland zu bleiben“. Versatzstücke aus dieser Sendung wurden nachfolgend in mehreren tschechoslowakischen Tageszeitungen abgedruckt. Gerta Adlerová Fröhlichová fühlte sich hintergangen: „Ich trat im Rundfunk auf. Ich verging dabei fast vor Scham, nie zuvor hatte ich zu den Kriechern gehört. Ich bekam tückische Fragen gestellt, sie nutzten es aus, dass ich jung und unerfahren war. Ich wusste damals nicht einmal richtig, was ein Tonbandgerät eigentlich ist. In der Sendung selbst waren meine Äußerungen so zusammengeschnitten, dass ich beim Anhören hilflos zu weinen anfing.“ [3, 198].