Kapitel 4


Rückkehr und Aufbruch

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Hürdenlauf ins neue Leben

Nach den rückkehrwilligen Personen des Fluchtzuges wurden am Abend des 12. September auch die politischen Flüchtlinge abgeholt. Sie fuhren um ca. 19 Uhr mit einem LKW und drei Pkw der US-Armee vom Rot-Kreuz-Heim in Selb nach Straubing ab, wo der US-Militärgeheimdienst einen Standort unterhielt. In Straubing wurden sie in Einfamilienhäusern untergebracht, standen jedoch unter militärischem Schutz. Die Sorge um ihre Sicherheit war berechtigt. Karel Ruml berichtet in seinem Erinnerungsbuch „Aus dem Tagebuch des Freiheitszuges“ von einem vereitelten Anschlag. Als einige Geflüchtete des Freiheitszuges am 16. September in einem Wohnviertel von Straubing zu Abend aßen, kam es vor dem Restaurant plötzlich zu einer kurzen, aber heftigen körperlichen Auseinandersetzung, woraufhin ein fremder Mann abgeführt wurde. Der Angreifer soll laut Ruml ein bewaffneter Auftragsmörder eines kommunistischen Geheimdienstes gewesen sein.

Am 15. September gaben einige Akteure der Flucht mit dem Passagierzug in Straubing eine Pressekonferenz, die von den Amerikanern einberufen wurde. Das Rehauer Tagblatt brachte darüber einen Bericht mit dem Titel „Der Eisenbahner, der die Freiheit liebte“, in dem vor allem Fahrdienstleiter Karel Truksa zitiert wurde.

Zwei Tage darauf, am 17. September, wechselten die meisten Flüchtlinge in das Valka-Lager in Nürnberg-Langwasser, eines der größten Sammellager in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit trennten sich ihre Wege von Karel Truksa und Jaroslav Konvalinka. Diese wirkten noch einige Zeit an Aufklärungs- und Propagandainitiativen der US-Stellen mit, danach begann auch für sie das Warten in Flüchtlingslagern. Eine der Aufklärungsmaßnahmen waren Flugblätter in tschechischer Sprache, von denen mehrere Versionen überliefert sind. Die Flugblätter wurden in den folgenden Wochen mit Ballons über Westböhmen abgeworfen. Das Ziel der Flugblätter war, den tatsächlichen Hergang der Fluchtaktion mit dem tschechoslowakischen Personenzug zu schildern und damit der massiven Tatsachenverfälschung in Rundfunk und Presse der kommunistischen Tschechoslowakei den Boden zu entziehen. Die Flugblätter weichen dabei selbst in einigen Punkten von den Tatsachen ab – wohl bewusst, aus Sicherheitsgründen. Die Wortwahl der Flugblätter lässt die damals herrschende Atmosphäre des Kalten Krieges erahnen. Eines der Flugblätter trug die Überschrift „Die Wahrheit über den Freiheitszug“.

Beim Umzug in das Valka-Lager fuhr die Gruppe der tschechischen Geflüchteten mit dem Abendzug aus Straubing nach Nürnberg-Langwasser. Dort kamen sie mitten in der Nacht an. Die unauffällige Anreise in der Dunkelheit war Sicherheitsbedenken geschuldet. Vom Bahnhof marschierten sie mit dem Koffer in der Hand zum Valka-Lager. Nach einer kurzen Ruhepause wurden sie am nächsten Vormittag mit einem Polizeitransporter in das Gebäude des Nürnberger Amtsgerichts gebracht. Dort erwartete sie eine kurze Verhandlung vor dem Gericht der Alliierten Hohen Kommission, das sie von der Anklage des illegalen Grenzübertritts freisprach. Als ausländische Asylsuchende unterstanden sie der US-Gerichtsbarkeit.

Im Valka-Lager schlossen sich ihnen die Gymnasiasten und einige andere junge Landsleute an, die zusammen mit ihnen im Freiheitszug nach Bayern gekommen waren und sich erst nachträglich in Grafenwöhr entschlossen hatten, im Westen zu bleiben. Die tschechische Gruppe wuchs dadurch an, und Karel Ruml übernahm wegen seiner guten Englischkenntnisse die Rolle ihres Dolmetschers und Sprechers. Die Lebensbedingungen im Valka-Lager waren bedrückend. Viele Heimatlose, ehemalige Zwangsarbeiter oder KZ-Häftlinge, lebten schon seit Jahren ohne eine klare Zukunftsperspektive in den Baracken. Umso mehr waren Karel Ruml und seine Gruppe erleichtert, als sie das Lager bereits nach einer Woche wieder verlassen konnte. Sie durften sich ins Lager des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (International Refugee Organization - IRO) begeben. Bereits am 24. September brachen sie frühmorgens mit dem Zug von Nürnberg nach Ludwigsburg auf.


Politische Flüchtlinge des Freiheitszuges verlassen das Valka-Lager.

Die alten Kasernen, in denen die IRO in Ludwigsburg untergebracht war, wurden ihre Wohnstatt für die nächsten siebzehn Tage. Alle beantragten Asyl in Kanada. Sie versprachen sich davon eine raschere Abwicklung und bessere Erfolgsaussichten, als bei einem Visum für die USA oder andere Länder. Nur die Hälfte der Gruppe bestand schließlich die strengen Sicherheitsüberprüfungen und Gesundheitschecks, darunter Karel Ruml und die Gymnasiasten. Die anderen mussten weiterhin in deutschen Lagern ausharren, so auch die Familie Švec. Der Ascher Arzt, seine Frau und seine drei Söhne konnten erst im Frühling 1952 nach Großbritannien ausreisen.

Das Lebensumstände und die bürokratischen Hürden stellten die Asylsuchenden auf eine harte Geduldsprobe. Anderseits waren sie in einer Schicksalsgemeinschaft vereint, man kam sich menschlich näher, und es entstanden sogar Beziehungen, die für das weitere Leben wesentlich wurden. Karel Ruml freundete sich in Nürnberg und Ludwigsburg mit der Familie Švec an. Als Ruml im Oktober nach Kanada ausreiste, verloren sie sich aus den Augen. Viele Jahre später kreuzten sich ihre Wege in Kalifornien wieder, und sie konnten wieder an ihre Freundschaft anknüpfen. Vladimír Šilhart, politischer Flüchtling des Freiheitszuges, fand in einem deutschen Lager die Liebe seines Lebens. Sie hieß Milena P. und kam einen Monat nach ihm zusammen mit Zdenka Hýblová zu Fuß über die bayerische Grenze. Die Verflechtung der Umstände brachte die jungen Leute einander bald näher. Hatte die Freundin Milenas, Zdenka, doch ausgerechnet im Fluchtzug des 11. Septembers, bei dessen Entführung Vladimír geholfen hatte, erstmals die freie Luft des Westens geschnuppert. Vladimír Šilhart und Milena P. wurden ein Paar. Sie ließen sich in London nieder.

Karel Ruml und zehn Mitglieder seiner Gruppe, die das kanadische Visum in der Tasche hatten, nahmen am 11. Oktober die nächste Etappe auf dem Weg in die Freiheit. Sie reisten aus Ludwigsburg in das Camp Lesum, das am Ufer der Weser unweit von Bremen lag. Die Menschen, die dort Quartier nahmen, hatten bereits eine klare Perspektive: sie warteten darauf, sich nach Übersee einschiffen zu können. Am 15. Oktober war die tschechische Gruppe dann schon an Bord des norwegischen Schiffes Goya auf hoher See – zusammen mit Hunderten Auswanderern aus vielen Ländern Europas. Am 24. Oktober gingen sie alle in Halifax an Land.

Die Familien Truksa und Konvalinka erhielten am US-Konsulat in Frankfurt ein Visum für die Vereinigten Staaten. Am 17. November 1951 flogen sie mit einer Maschine der Pan American vom Frankfurter Flughafen nach New York ab. Der Ruf von Helden der Freiheit eilte ihnen voraus. Einen Monat lang standen sie in den Vereinigten Staaten im Scheinwerferlicht der Massenmedien, bevor für sie das gewöhnliche Leben im Exil begann.

Der tschechoslowakische Passagierzug, der den Ausgangspunkt ihrer Reise in die Neue Welt gebildet hatte, ruhte einige Wochen auf einem Abstellgleis des Bahnhofs Plößberg. Soldaten der US-Constabulary hüteten die Lokomotive mit dem Packwagen und den drei Sitzwagen. Der Staub des Vergessens sank schon auf ihn herab, als schließlich Bewegung in ihn kam.

Am 9. Oktober lief der Streckenfernsprecher zwischen den Bahnstationen Selb-Plößberg und Asch heiß. Bahnhofsvorsteher Max Schmauß und seine Mitarbeiter verhandelten mit der Bahnmeisterei Asch über die Rückführung der gestohlenen Zuggarnitur. Nach einigem Hin und Her über die Frage, wer die Lokomotive durch das deutsche Territorium führen sollte, schritt man am 10. Oktober zur Tat. Bahnmitarbeiter aus Selb-Plößberg brachten den Zug exakt bis an die Grenze. Dort wurde er dem Bahnhofsvorsteher von Eger übergeben und nach einer gründlichen Durchsuchung von tschechischem Zugpersonal um 14:45 Uhr über die Grenze in die Tschechoslowakei geführt. Ebenfalls anwesend waren der Kommandant der Grenzwacht Asch und ein tschechischer Beamter in Zivil. Auf deutscher Seite wurde die Übergabe von Oberst White, Kommandeur der US-Constabulary Weiden, und einem US-Offizier aus Straubing beaufsichtigt. Beamte der Bayerischen Grenzpolizei hatten alle Hände voll zu tun, um das Gelände vor Schaulustigen und der Presse abzuschirmen.