Kapitel 3


Ein gestrandeter Passagierzug aus der ČSR. Was nun?

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Berichterstatter aus aller Welt strömen nach Selb-Plößberg

Der stille Provinzbahnhof Selb-Plößberg erlebte nach der Ankunft des tschechoslowakischen Fluchtzuges einen enormen Andrang von Presse und Rundfunk. 

Die Ankunft eines kompletten tschechoslowakischen Passagierzuges mit gut zwei Dutzenden politischen Flüchtlingen an Bord verbreitete sich in Windeseile in den Massenmedien der westlichen Welt. Einen wahren Sturm der Begeisterung rief sie unter den Landsleuten der Geflüchteten in der Münchner Redaktion von Radio Free Europe hervor. Der US-Rundfunksender war erst 1950 ins Leben gerufen worden. Sein Auftrag war, die osteuropäischen Diktaturen mit Ausnahme der Sowjetunion mit unzensierten Nachrichten zu versorgen. Pavel Tigrid, ein aus der Tschechoslowakei stammender Journalist, Schriftsteller und Herausgeber, war damals Programmdirektor von RFE. „Wir haben über diesen fulminanten Coup gejubelt – und unsere Hörer zu Hause mit uns!“, erinnerte sich Tigrid ein halbes Jahrhundert später im Vorwort zu Karel Rumls Buch „Aus dem Tagebuch des Freiheitszuges“. Es dauerte nicht lange, bis das effektvolle Schlagwort vom „Freedom Train“ geprägt war. Der im Exil lebende tschechische Komponist Josef Stelibský schrieb einen Song in beschwingten Jazz-Rhythmen mit dem Titel „Mr. Konvalinka“. Interpretiert von dem Sänger Mirko Wrbeč und dem Orchester von RFE versprühte er auf den Wellen dieses Rundfunksenders unzählige Male amerikanische Lebenslust und Optimismus. Den Blick fest auf sein Ziel, die Freiheit, gerichtet, flog Konvalinka mit dem Zug durch die Landschaft, heißt es darin.

Lied - Mr. Kovalinka

Außer der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten rief die sensationelle Zugentführung auch in Kanada, Frankreich, Großbritannien, Holland und zahlreichen anderen Ländern ein gewaltiges Medienecho hervor. Erwin Wagner berichtete an das Grenzpolizeikommissariat Marktredwitz lakonisch: „Zur Presse selbst ist zu sagen, dass man sich dieser nicht erwehren konnte. Nicht nur aus allen Teilen der Bundesrepublik, sondern aus allen Ländern Westeuropas kamen Anrufe, Reporter und Filmberichter.“ Selb-Plößberg im Fokus der Weltpresse, das hatte es noch nie gegeben!

Die Aufsehen erregende Fluchtaktion machte selbstverständlich auch in der oberfränkischen Presse Schlagzeilen. Die regionalen Zeitungen berichteten mehrfach darüber. Im Rehauer Tagblatt etwa erschien am 13. September ein dreispaltiger Bericht mit dem Titel: „Tschechischer D-Zug mit Flüchtlingen durch die Ascher Grenzstation gerast“. Eine Woche später titelte dieselbe Zeitung: „Der Eisenbahner, der die Freiheit liebte“. Der Bericht fasste eine Pressekonferenz zusammen, die politische Flüchtlinge des entführten Passagierzuges in Straubing gegeben hatten. Wagner fasste in einem Bericht vom 16. September zusammen: „Die örtliche Presse hat in zwei Ausgaben über das Vorkommnis ziemlich objektiv berichtet und auch das Verhalten bzw. die Stimmung der wider Willen eingereisten Tschechen hinreichend geschildert.“

Das staatliche Tschechoslowakische Pressebüro ČTK brütete unterdessen eine „Amtliche Mitteilung“ aus, die der aus einer existentiellen Bedrohung geborenen, wagemutigen Fluchtaktion den Anstrich eines von feindlichen Agenten eingefädelten, brutalen Terroraktes verlieh. Diese die Tatsachen verfälschende propagandistische Darstellung wurde erstmals am 15. September veröffentlicht und nachfolgend in auflagenstarken Zeitungen wie Rudé právo (Rotes Recht), Pravda (Wahrheit) und Lidové noviny (Volkszeitung) abgedruckt. Der vollständige Titel lautete: „Amtliche Mitteilung über die Entführung tschechoslowakischer Bürger in einem Schnellzug durch eine von einem amerikanischen Agenten geleitete Terroristenbande“. Der 1. Teil des Artikels handelte von dem Tag in Selb-Plößberg.