Kapitel 2
Mit Volldampf in die Freiheit
anzeigen
Kapitel-Übersicht
Mit Volldampf in die Freiheit
Die Regie der Grenzüberfahrt des Personenzuges lag ganz in den Händen von Konvalinka und Truksa. Als sich der Zug dem Bahnhof Asch näherte und Lokführer Konvalinka das Einfahrsignal erblickte, schloss er den Dampfdruckregler der Lokomotive und drosselte die Geschwindigkeit. Nun kam für Truksa der Augenblick zu handeln. Mit entsicherter Pistole trat er zum Heizer, Josef Kalabza, und zwang ihn, sich auf den Boden zu legen. Überrumpelt gehorchte der Heizer, dem Konvalinka und Truksa nicht trauten. Truksa hielt ihn während der folgenden Minuten mit vorgehaltener Pistole in Schach.
Unterdessen öffnete Konvalinka den Regler wieder und gab kräftig Dampf, sodass der Zug auf der Höhe des Bahnhofs stark beschleunigte und ohne anzuhalten am Fahrdienstleiter des Bahnhofs Asch vorbeiraste, der wild gestikulierend auf dem Bahnsteig des Westkopfes stand. Die Weiche war Richtung Selb-Plößberg gestellt, das Gleis war frei. Unaufhaltsam toste der Personenzug auf die deutsche Grenze zu.
Die alles entscheidenden Momente der Grenzüberfahrt kamen in Windeseile herangeflogen. Karel Ruml hat sie in seinem Werk „Aus dem Tagebuch des Freiheitszuges“ eindrücklich geschildert.
Vor der Staatsgrenze waren auf beiden Seiten der Bahnstrecke Posten der tschechoslowakischen Grenzwacht. Die Grenze selbst war mit Wachtürmen, Zäunen und Minenfeldern befestigt. Noch war der Eiserne Vorhang mehr ideologisches Konstrukt als technische Realität, doch die Grenze wurde immer mehr abgedichtet. Am 11. Juli 1951 war die gesetzliche Basis für die tschechoslowakische Grenzwacht geschaffen worden. Die Grenzwacht war nach dem Vorbild der sowjetischen Grenzschutztruppen organisiert und direkt dem Innenministerium unterstellt. Sie sollte nach und nach die 1946 gebildeten Grenzschutzeinheiten der Sicherheitskräfte ersetzen.
Einige Soldaten der Grenzwacht gerieten laut Augenzeugenberichten in Panik und feuerten Schüsse auf die Räder des vorbeidonnernden Zuges ab. Die Schüsse verhallten ohne Wirkung hinter dem sich rasch entfernenden Zug.
Ein Stück hinter der Grenze brachte Konvalinka die Zuggarnitur durch das Bremsen der Lokomotive zum Stehen. Der Zug hielt beim ersten Schrankenposten auf bayerischem Gebiet in der Nähe von Wildenau. An die 120 Personen befanden sich darin, das Zugpersonal und einige uniformierte Angehörige der Sicherheitskräfte, die nach dem Anhalten zur tschechoslowakischen Grenze zurückrannten, mit eingerechnet. Ein Entflohener wurde bald darauf von einem Beamten der bayerischen Grenzpolizei gefasst und zum Zug zurückgebracht.
In dem Wärterhäuschen des Schrankenpostens, bei dem der Personenzug zum Stehen gekommen war, gab es einen Streckenfernsprecher. Truksa berichtet in seiner Autobiographie, dass ein Bahnbediensteter mit diesem Bahntelefon den Bahnhof Selb-Plößberg angewählt habe, worauf er, Truksa, auf Deutsch erklärte, dass sich Asylsuchende in dem Zug befänden. In die offene Leitung habe sich die Stimme des Fahrdienstleiters des Ascher Bahnhofs gemischt, der vermutete, dass die Bremsen versagt hätten, und gefordert habe, dass der Zug sofort in die Tschechoslowakei zurückgebracht werde.
Die Reisenden strömten unterdessen aus dem Zug und standen in Gruppen auf dem Bahndamm. Eine junge Frau, die als unbeteiligter Fahrgast im Zug mitfuhr, beobachtete, dass sich gleich nach dem Anhalten des Zuges auch einer der Flüchtlinge, die an den Rädern der Handbremsen Posten gestanden hatten, vom Zug entfernte. Miluše Dusíková prägten sich noch andere dramatische Szenen der Grenzüberfahrt ein:
„Als wir auf der deutschen Seite hielten, verließ der junge Mann den Waggon und begann zu dem nahen Wald zu laufen. Das war auf der linken Seite, und auf der rechten Seite stieg ein anderer mir unbekannter Mann aus, er gehörte offenbar auch zu den Entführern, er legte sich auf die Böschung bei der Trasse und wiederholte mit lauter Stimme immer wieder: ‚Gott sei Dank, wir sind da!‘ Es war ihm anzusehen, dass er mit seinen Nerven am Ende war.“
Der „Freiheitszug“ beim ersten Halt auf deutschem Boden. © Archiv Robert Koutný