Kapitel 1


Die Geburtsstunde des Freiheitszuges

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Die Geburtsstunde des Freiheitszuges

Karel Truksa lebte nun allein in seiner Franzensbader Wohnung. Im Spätsommer brachte seine Widerstandsgruppe einen jungen Mann bei ihm unter, der sich bereits längere Zeit an verschiedenen Orten vor der Polizei versteckt hielt.

Dieser junge Mann war der Prager Vladimír Šilhart. Vladimír war der ältere von zwei Söhnen des Pragers František Šilhart, der als erfolgreicher Unternehmer der Werbebranche in der Zwischenkriegszeit zu Wohlstand gekommen war. Nach der Machtergreifung der Kommunisten im Februar 1948 betrieb František Šilhart weiterhin ein Anzeigenbüro in der Prager Innenstadt. Gleichzeitig verschrieb er sich dem antikommunistischen Widerstand. Er baute eine Widerstandsgruppe auf, die Geheimnachrichten außer Landes schmuggelte. Diese in Prag basierte Gruppe agierte überregional und unterhielt Verbindungen zu westlichen Geheimdiensten.

Seinen Sohn Vladimír schickte František Šilhart 1948 zu Bekannten nach Cambridge. Doch Vladimír kehrte mehrmals illegal in seine Heimat zurück, unter anderem, um seine Freundin zu besuchen. Wie weit Vladimír in Aktivitäten des antikommunistischen Widerstandes eingebunden war, ist bis heute strittig. Der tschechoslowakische Staatssicherheitsdienst hielt Vladimír Šilhart später für einen Spion des französischen Geheimdienstes.

Am Freitag, dem 7. September 1951, wurde Karel Truksa zum Kommandanten seiner Widerstandsgruppe einbestellt. Um welche Gruppe es sich genau handelte und wo das Treffen stattfand, darüber wahrte Karel Truksa ein Stillschweigen, das er auch später nicht brach, als er schon im amerikanischen Exil lebte. Der Kommandant teilte Truksa mit, dass gegen ihn, Jaroslav Konvalinka und Doktor Jaroslav Švec Haftbefehle erlassen worden seien. Die Verhaftung sei für Freitag, den 14. September, geplant.

Eine im Untergrund agierende Widerstandsgruppe hatte sich 1948 auch in Eger gebildet. Diese Egerer Gruppe, die sich sowohl in der Fluchthilfe als auch bei der Beschaffung und dem Schmuggel von Geheimnachrichten engagierte, arbeitete eng mit dem Exiltschechen Emanuel Lát zusammen.

Emanuel Lát war nach dem Zweiten Weltkrieg in das Grenzland bei Eger gezogen. Zuvor lebte er auf der Böhmisch-Mährischen Höhe, dort absolvierte er eine Handelsakademie. Emanuel Lát wurde ein verödetes bäuerliches Anwesen im Weiler Raisik bei Franzensbad zugeteilt; heute heißt dieser Landstrich Klesť. Dieses landwirtschaftliche Gut wurde jedoch nach der kommunistischen Machtergreifung im Februar 1948 verstaatlicht. Lát wurde enteignet und flüchtete Mitte März 1948 nach Bayern. Nach Aufenthalten in den Flüchtlingslagern Hof-Moschendorf und Schwabach begann Emanuel Lát für den US-Geheimdienst CIC (Counter Intelligence Corps) zu arbeiten. Im Zusammenhang damit hielt er sich auch des Öfteren in Selb auf. Schon zuvor hatte er Kontakte zum britischen Geheimdienst. Lát war in die Beschaffung von Geheimnachrichten eingebunden, ein anderer Auftrag von ihm bestand in der Herausbildung von Informanten-Netzwerken in der Tschechoslowakei. Lát stand mit dem Gastwirt Rudolf Průcha in Kontakt, der die Egerer Widerstandsgruppe aufbaute und koordinierte. Im November 1950 wanderte Lát in die Vereinigten Staaten aus. Zuvor deaktivierte er nach eigenen Angaben die Egerer Gruppe. Von der Egerer Gruppe bestanden Kontakte zur Widerstandsgruppe František Šilharts in Prag.

Nach dem Treffen mit dem Kommandanten seiner Widerstandsgruppe fuhr Truksa in seine Franzensbader Wohnung zurück. Am selben Tag suchte ihn der Ascher Arzt Jaroslav Švec auf. Er sei während des Tages festgenommen und vom Staatssicherheitsdienst verhört worden, berichtete Švec. Dabei sei Druck auf ihn ausgeübt worden, künftig dem Staatssicherheitsdienst Informationen über Bekannte und Patienten zu liefern. Für den Fall, dass er dazu nicht bereit sei, habe man ihm die Verhaftung angedroht mit der Begründung, dass man genug gegen ihn in der Hand habe. Švec war zuvor schon wegen seiner unverhüllt kritischen Haltung zum Kommunismus wiederholt Repressionen ausgesetzt gewesen. Zudem stand er im Verdacht, Fluchtwillige unterstützt zu haben. Er habe keine andere Wahl mehr, als das Land zu verlassen, stellte Švec fest.

Am 9. September, einem Sonntag, trafen sich Truksa, Konvalinka und Švec in Truksas Franzensbader Wohnung. Truksa hatte zuvor schon damit begonnen, alle schriftlichen Unterlagen und sonstigen Spuren zu vernichten, die irgendjemanden in Gefahr bringen könnten. Bei dem Treffen rückte Konvalinka mit einem Vorschlag heraus, der ihm angeblich am Morgen beim Rasieren eingefallen war. Anstatt nur mit einer Lokomotive oder einem Güterzug zu flüchten, was er und Truksa schon früher für den Fall einer akuten Notlage erwogen hatten, könnte ein Passagierzug benutzt werden, schlug Konvalinka vor. Dieser Plan fand Anklang, weil auf diese Weise mehr Personen mitgenommen werden konnten. Es war die Geburtsstunde der Fluchtaktion mit dem Personenzug Nr. 3717, der zwischen Eger und Asch verkehrte.

Skizze der Fluchtstrecke von Truksa und Konvalinka

Bei Konvalinka war zu jener Zeit ebenfalls bereits ein politischer Flüchtling versteckt. Diese Person, deren Namen Truksa und Konvalinka in ihrer Autobiographie nicht preisgaben, brachte man jetzt aus Sicherheitsgründen anderswohin. Bei dem Treffen in Truksas Wohnung wurden alle technischen Einzelheiten des Fluchtplans durchbesprochen.

Doch es standen noch einige ungelöste Probleme im Raum. Eines davon war, dass der Lokomotivführer Konvalinka gemäß dem Dienstplan nicht für die Strecke Eger – Asch vorgesehen war. Konvalinka überredete daher unter einem Vorwand einen Kollegen, am Dienstag eine Fahrt mit ihm zu tauschen. Er gab vor, er müsse Äpfel zu Bekannten bringen – in Zeiten der Lebensmittelknappheit ein gewichtiges Argument.

Am Montag, dem 10. September, fand nachmittags ein weiteres geheimes Treffen bei einem Mitglied des Netzwerks von Widerstandskämpfern in Karlsbad statt, bei dem der Fluchtplan besprochen wurde. An diesem Treffen nahm Karel Truksa teil. Die Zelle in Karlsbad stand mit der Prager Gruppe František Šilharts in Verbindung.

Danach klapperte Truksa mit dem Moped mehrere Bekannte ab, um sie zu informieren, dass sie sich am folgenden Tag einem Fluchtversuch anschließen könnten. In Einzelheiten des Fluchtplanes wurde jedoch niemand eingeweiht, das wäre zu riskant gewesen. Auch seine getrennt von ihm lebende Frau suchte Truksa auf; sie solle am folgenden Tag mit ihrem siebenmonatigen Söhnchen von Pilsen / Plzeň mit dem aus Prag kommenden „Kurbad-Zug“ nach Eger zu fahren - was Frau Truksová dann auch tat. Die von Truksa namentlich nicht genannten Bekannten befolgten seinen Hinweis ebenfalls, auch sie saßen am Dienstag im richtigen Zug.

Nach diesen bis tief in die Nacht vom Montag auf den Dienstag dauernden Botenfahrten fuhr Truksa noch vor Tagesanbruch weiter zum Ascher Bahnhof. Er wollte sichergehen, dass der dort abzweigende Schienenstrang nach Selb-Plößberg nicht blockiert war. Auf diesem wurde des Öfteren ein Waggon abgestellt, auch konnte er mit einer Schranke quer über das Gleis gesperrt werden. In welchem Zustand Truksa den Gleisabschnitt vom Ascher Bahnhof bis zur Staatsgrenze vorfand und welche Vorkehrungen er eventuell traf, ist eines der Rätsel des Freiheitszuges, die vielleicht nie vollständig gelöst werden. Laut der Aussage des Lokführers Jaroslav Konvalinka, die dieser einen Tag später bei seiner Vernehmung durch Beamte der Bayerischen Landesgrenzpolizei in Selb machte, schnitten er und Truksa die Weiche auf dem Ascher Bahnhof auf. Wann und wie sie das taten, behielten die beiden für sich. Um jedes Risiko auszuschließen, dass der Personenzug am Nachmittag vor der Grenze auf ein Hindernis prallen könnte, trug Truksa am Dienstagmorgen noch Doktor Jaroslav Švec telefonisch auf, den Streckenabschnitt zu Mittag ein letztes Mal zu kontrollieren.

Gegen 14 Uhr traf der Schnellzug aus Prag fahrplangemäß auf dem Bahnhof Eger ein. Dort wurden einige Waggons abgekoppelt, die als Personenzug Nr. 3717 nach Asch weitergeführt wurden. Die Zuggarnitur nach Asch bestand aus einem Gepäckwagen und drei Sitzwagen. Beim Vorspannen der Lokomotive wich Konvalinka von den üblichen Regeln ab. Er hatte dafür einen triftigen Grund. Die Lokomotive wurde auf der Strecke Eger – Asch gewöhnlich Tender voraus vorgespannt, denn in Asch gab es keine Drehscheibe zum Wenden von Lokomotiven. Diesmal jedoch spannte Konvalinka die Lokomotive Schornstein voraus vor. In dieser Stellung konnte die Lok bis auf 90 km/h beschleunigt werden, während sie rückwärts maximal 60 km/h fahren konnte.

 Lokomotive der Baureihe 365 der Tschechoslowakischen Staatsbahnen

Lokomotive der Tschechoslowakischen Staatsbahnen vom Typ jener des „Freiheitszuges“, Baureihe 365

In Eger stieg eine größere Gruppe von Gymnasiasten in den Zug zu, die täglich von Asch, Haslau / Hazlov und Franzensbad in den Unterricht nach Eger pendelten. Unter den neu zugestiegenen Fahrgästen befand sich aber auch Frau Konvalinková mit ihren beiden Kindern, der neunjährigen Tochter und dem sechsjährigen Sohn. Einer Mitreisenden fiel auf, dass die Familie Konvalinka eine Menge Gepäck dabei hatte, sogar einen Käfig mit einem Papagei! Außerdem nahmen noch mindestens zwei weitere Familien aus Eger, die Karel Truksa in der letzten Nacht zum Mitfahren eingeladen hatte, in den Waggons Platz. Insgesamt hatten sich damit bereits rund 20 Flüchtlinge unter die Fahrgäste gemischt.

Alle diese Personen wussten jedoch nur, dass es eine Fluchtgelegenheit über Asch geben würde. Auf welche Weise sie über die Grenze gebracht werden sollten, war ihnen unbekannt. Außer Karel Truksa, Jaroslav Konvalinka und Doktor Jaroslav Švec war niemand in die Einzelheiten des Fluchtplanes eingeweiht. Niemand außer ihnen wusste, dass der Personenzug 3717 bei Asch nach Bayern umgeleitet werden sollte.