Kapitel 3


Ein gestrandeter Passagierzug aus der ČSR. Was nun?

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Fieberhafte Suche nach einer Lösung

Unterdessen wurde auf Hochtouren darüber verhandelt, was mit dem in Selb-Plößberg gestrandeten tschechoslowakischen Personenzug und dessen Insassen geschehen sollte.

In der Grenzpolizeistelle Selb liefen die Fäden zusammen. Deren Leiter Erwin Wagner kam keine Minute mehr zur Ruhe. Am Abend des 12. September klagte er in einem Fernschreiben an seinen Vorgesetzten Kirschberg in Marktredwitz: „Wie schon erwähnt, bin ich heute überhaupt nicht in der Lage gewesen, bei irgendeiner Arbeit zu bleiben.“ Immer sei irgendetwas los gewesen. „Bereits heute Morgen um 6:00 Uhr war ich wieder auf den Beinen, und um 4:00 Uhr bin ich ins Bett gekommen.“

Die zahlreiche Fernschreiben, die zwischen den Dienststellen der Bayerischen Landesgrenzpolizei in Selb, Marktredwitz und München gewechselt wurden, spiegeln die Ereignisse jener Stunden und Tage mit der Präzision unmittelbar vor Ort entstandener dienstlicher Aufzeichnungen wider. Der Dienstweg führte von der Grenzpolizeistelle Selb zum Bayerischen Landesgrenzpolizeikommissariat Marktredwitz und von dort weiter zur Direktion der Bayerischen Landesgrenzpolizei in München. Am 16. September 1951 schickte Wagner zudem einen ausführlichen Bericht nach Marktredwitz, der die bisherigen Vorgänge zusammenfasste. Grenzjäger-Oberkommissar Erwin Wagner war sich der historischen Bedeutung der außergewöhnlichen Fluchtaktion bewusst. Dank der Umsicht Wagners und dessen Nachfolger sind die schriftlichen Unterlagen der Grenzpolizeistelle Selb bis heute erhalten geblieben.

Auf die brennendste Frage, wie über den Zug und dessen Insassen verfügt werden sollte, von denen die meisten gegen ihren Willen nach Bayern gebracht worden waren, reagierte schließlich am Abend des 11. Septembers die Direktion der Bayerischen Landesgrenzpolizei in München. Sie erteilte die Anweisung, dass die Reisenden zu erfassen und ebenso wie der Zug gegen Unterschrift an die tschechoslowakischen Behörden zu übergeben seien. Dem trat jedoch der in Selb-Plößberg anwesende Offizier des Military Intelligence Service in Hof, Major Gurs, entgegen und erklärte, dass der tschechoslowakische Fluchtzug durch das Europäische Hauptquartier der Vereinigten Staaten (EUCOM) beschlagnahmt sei. Noch in derselben Nacht erreichte die Grenzpolizeistelle Selb die Nachricht, dass die Alliierte Hohe Kommission in der Sache mit Bundeskanzler Adenauer verhandle. Mit dem Einschreiten der US-Besatzungsmacht gingen der tschechoslowakischen Fluchtzug und dessen Insassen in deren verantwortliche Zuständigkeit über.

Doch da war vor Ort schon Manches ins Rollen gekommen. Aufgrund der Entscheidung der Landespolizeidirektion, die über den Streckenfernsprecher an den Fahrdienstleiter des Bahnhofs Asch mitgeteilt wurde, machte sich in Asch eine Lokomotive mit doppelter Besatzung nach Selb-Plößberg auf den Weg. Die zweite Besatzung sollte in Selb-Plößberg auf die Freigabe des Personenzuges warten und diesen nach Asch zurückfahren. Diese Lokomotive traf um 21:59 Uhr auf dem Bahnhof Selb-Plößberg ein. Um 22:08 Uhr fuhr sie mit einer Besatzung wieder nach Asch zurück. Dabei kam es zu einem Zwischenfall, der nicht ohne Folgen blieb. Der Heizer des illegal eingereisten Personenzuges, Josef Kalabza, bestieg unbemerkt die Lokomotive und kehrte mit ihr in die Tschechoslowakei zurück. Josef Kalabza war bei der Grenzüberfahrt von Karel Truksa mit vorgehaltener Pistole gezwungen worden, sich auf den Boden zu legen, da ihm die Organisatoren der Flucht nicht trauten. Durch Kalabza bekamen die tschechoslowakischen Sicherheitskräfte Informationen aus erster Hand über die Vorgänge während der Flucht und danach in Selb-Plößberg. Die zweite Lokbesatzung wurde am nächsten Tag mit dem Kohlezug, der regelmäßig auf der Strecke Hof - Eger verkehrte, in die Tschechoslowakei zurückgeschickt. Sie wurde wegen der Beschlagnahme des Personenzuges durch die US-Besatzungsmacht nicht mehr gebraucht. Es handelte sich um Lokpersonal, das täglich auf dieser Strecke verkehrte und daher über sogenannte „Frontalierpermits“ verfügte, die zum Grenzübertritt berechtigten.

Vorfälle an der Grenze waren traurige und erschütternde Realität im tschechisch-bayerischen Grenzgebiet der Nachkriegsjahre. Menschen aus der Tschechoslowakei flüchteten zu Fuß über die Grenze, versteckten sich in Straßenfahrzeugen und Eisenbahnzügen oder versuchten, mit gefälschten Papieren illegal einzureisen. Immer wieder wurden Transportmittel als Vehikel für die Flucht eingesetzt. Vereinzelt kam es vor, dass sich Bewohner grenznaher bayerischer Orte auf tschechoslowakisches Staatsgebiet verliefen und von tschechoslowakischen Grenzschützern festgenommen wurden.

Trotz alledem stellte die Fluchtaktion mit dem tschechoslowakischen Personenzug am 11. September 1951 einen absoluten Ausnahmefall dar. Noch nie waren so viele unbeteiligte Personen in eine Fluchtaktion hineingezogen worden, und nie zuvor wurde eine ganze Zuggarnitur über die Staatsgrenze umgeleitet, und das nach einem präzise koordinierten und mit bestechendem Sachverstand ausgeführten Plan. Außergewöhnlich war zudem die beträchtliche Anzahl politischer Flüchtlinge, die dabei in die amerikanische Besatzungszone der Bundesrepublik Deutschland gelangten. Besonders brisant war, dass mehrere der geflüchteten Personen in der Tschechoslowakei im antikommunistischen Widerstand aktiv gewesen waren. Die Causa wurde noch in der Nacht vom 11. auf den 12. September an das Außenministerium in Washington weiterverwiesen, um eine Entscheidung auf höchster Ebene herbeizuführen.

Politische Flüchtlinge nach der Ankunft in Selb-Plößberg.