Die alles entscheidenden Momente der Grenzüberfahrt

„Später hielt der Zug in einer kleinen Station namens Hazlov. Dort erklangen eine Zeitlang Schläge von Eisen auf Eisen, wie bei einem Schmied. Ich wusste, was das bedeutete. Truksa und der Lokführer Konvalinka koppelten vorne die Leitung zu den Luftdruckbremsen ab, und jetzt klopften sie mit Hämmern auf die gelösten Klötze, damit sie sich im entscheidenden Augenblick nicht in den Rädern verkeilten. Von diesem Augenblick an konnte der Zug nur mehr mit der Lokomotive oder durch die Betätigung der großen Räder der Handbremsen in den Waggons angehalten werden. […].

Es war kurz vor drei Uhr nachmittags. Ich erhob mich, streckte mich ein wenig durch und ging ohne Eile bis ans Ende des Ganges zu der Bremse, wo mich so anlehnte, dass ich das Rad zumindest teilweise verdeckte. Von dort aus beobachtete ich eine Zeitlang die Passagiere, die in meinem Blickfeld waren, und versuchte abzuschätzen, wer von ihnen eine Gefahr darstellte. Zu den uniformierten Genossen fügte ich noch zwei unauffällige Zivilisten hinzu, bei denen ich mir fast sicher war, dass sie Spitzel waren. Auch blickte ich manchmal aus dem Fenster links, wo sich die Grenze hinzog. Mir kam mehrmals zu Bewusstsein, dass in der Ferne Stacheldraht, Wachtürme und andere unheilvolle Zierden des Eisernen Vorhangs vorbeiflogen. Ein Stück vor Asch schien es mir, als ob der Zug langsamer würde, was mir einen Augenblick lang einen ohnmächtigen Schrecken einjagte. Sogleich begannen wir jedoch so sehr zu beschleunigen, dass wir wie ein Schnellzug in den Bahnhof einfuhren, und mit derselben Geschwindigkeit fuhren wir weiter. Die Räder hüpften auf den Weichen, von denen ich noch immer nicht wusste, ob sie in unsere Richtung gestellt waren. Im Waggon brach Panik aus. Einem nervösen Menschen fiel die Handbremse hinter meinem Rücken ein, doch er wurde von einem dicken Polizisten grob beiseite gestoßen, der mich anzischte, ich solle mich von der Stelle rühren.

Das lange Warten war zu Ende. Ich reagierte automatisch. Ich drückte mich mit dem Rücken ans Rad und zog mit einer lange eingeübten, schnellen Bewegung die Pistole, während ich sie gleichzeitig entsicherte. Der Polizist war mir gefährlich nahe, er stand nur einen kleinen Schritt vor mir, doch in dem Augenblick stockte er jäh und starrte mit hervorquellenden Augen auf meine Waffe, die seinen gut genährten Bauch fast berührte. Zugleich blies er die Luft aus, sein Atem roch nach Bier, Zwiebel und Geselchtem, und mich durchzuckte der verrückte Gedanke, dass ich durch diesen Helden des Volkes noch in Ohnmacht fallen werde. Ich wiese ihn leise an, sich nicht zu bewegen und die Hände vom Leib zu nehmen. In seiner Miene kämpften Feigheit und Hass miteinander. Ich erwartete, dass die Feigheit siegen würde, und ich wurde nicht enttäuscht. Die Aufgeblasenheit und Selbstsicherheit der Amtsperson verpufften, und er blieb gehorsam mit von der Pistole in der Tasche an seiner Hüfte weggenommenen Händen regungslos stehen.

Das alles spielte innerhalb von ein paar Herzschlägen ab. Ich wusste nicht, wie weit es bis zur Grenze war und ob wir überhaupt auf dem richtigen Gleis waren. Und ich ahnte auch nicht, dass sich auf der Lokomotive etwas Ähnliches ereignete. Der bewaffnete Truksa bewachte dort den Heizer, der nicht in den Plan eingeweiht war, weil ihm Konvalinka nicht traute.
Die Sekunden zogen sich für mich endlos hin. Der bullige Polizist bildete einen guten Schutzschirm zwischen mir an der Bremse und den anderen Passagieren hinter ihm im Gang. Ich achtete darauf, dass niemand meine Waffe sah. Dann erblickte ich aus dem Augenwinkel einen Wachturm mit Maschinengewehren, der am Fenster vorbeiflitzte. Das gab mir wieder Hoffnung, dass wir auf dem Weg zur Grenze seien. Meine Freude währte jedoch nicht lange, weil mir in demselben Augenblick bewusst wurde, dass ein paar andere „Volksverteidiger“ durch den vollgestopften Gang zu uns drängten. Sie wunderten sich wahrscheinlich, warum der dicke Genosse nicht bremste. Ich versuchte abzuschätzen, wie viel Zeit mir noch blieb. Der Eiserne Vorhang konnte doch nicht mehr weit sein. Ich hoffte, dass die Aussicht auf Verstärkung meinem „Freund“ nicht Mut machte.

Meine Aufmerksamkeit war so vollkommen von der Entwicklung der Lage im Waggon gefesselt, dass ich zuerst überhaupt nicht bemerkte, dass der Zug langsamer wurde. Wir hielten fast genau in dem Augenblick, als sich die Männer in Uniform bis ans Ende des Ganges durchgezwängt hatten und dicht hinter ihrem regungslosen Kollegen waren. Sie hatten meine Waffe noch nicht erblickt, denn die ihren steckten noch immer in den Taschen. Ich verbarg die Hand mit der Pistole rasch unter der Jacke. Gleich danach wurde die wichtigste aller Fragen, ob wir wirklich in Bayern waren, durch meinen massigen „Freund“ auf eine frappierende Weise beantwortet. Er drehte sich mit einer Behändigkeit um, die ich ihm nicht zugetraut hätte, war mit zwei Sätzen bei der Tür auf der linken Seite des Waggons, sprengte sie in der Mitte und sprang hinaus, augenblicklich gefolgt von den beiden Genossen, die mich in ihrer Hast keines Blickes würdigten. Diese Helden wussten sicher, dass wir jenseits der Grenze waren, und sie glaubten offenbar wegen der tagtäglichen kommunistischen Propaganda, dass man ihnen im Westen etwas zu Leide täte.
Es ist müßig zu bemerken, dass mir in dem Augenblick ein Stein vom Herzen fiel. Ich ging den aufgeregten Reisenden rasch aus dem Weg, von denen die meisten aus dem Zug strömten und in lärmenden Grüppchen auf der rechten Seite der Trasse beisammen standen. Der Zug stand zwischen Feldern am Fuße einer bewaldeten Anhöhe, auf der, wahrscheinlich keinen Kilometer von uns entfernt, offenbar die Grenze war. Durch die offenstehende Tür auf der anderen Seite des Waggons beobachtete ich ein paar Augenblicke lang die drei Polizisten, die hangaufwärts trabten, wo ich in der Ferne ameisenhafte Gestalten in Uniformen zu erblickten glaubte, die durcheinander wimmelten.

Der Kontrast zwischen der östlichen und der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs war beinahe schon komisch. Im „Paradies des arbeitenden Volkes“ Stacheldrähte, Minenfelder, Wachtürme mit Maschinengewehren und eine Menge Wachleute, auf der westlichen Seite so gut wie gar nichts.“

[7, 115-118.]