Ich bleibe misstrauisch
Nach der Fluchtaktion mit dem Passagierzug am 11. September 1951 wurden umfangreiche Ermittlungen gegen Personen aus dem sozialen Umfeld der Geflüchteten eingeleitet. Zu den Betroffenen gehörte auch die Ascher Familie Liška, die mit der Familie von Dr. Jaroslav Švec verwandt war. Im März 1953 wurden die Eheleute Josef Liška und Marie Lišková verhaftet und nachfolgend abgeurteilt. Ihr Sohn Jiří Liška, der 2014 im Alter von 91 Jahren verstarb, hinterließ ein sehr persönliches Zeugnis von Ereignissen und Momenten aus der Zeit der Verfolgung und Unterdrückung seiner Familie, die sich ihm unauslöschlich einprägten. Seine Aufzeichnungen werden hier auszugsweise wiedergegeben.
„Es folgten furiose Ermittlungen, und am 7. März 1953 fielen Agenten des Staatssicherheitsdienstes in unser ruhiges Haus am Lindenweg / Lípová cesta 8 in Asch ein. Sie machten eine Hausdurchsuchung und verhafteten meinen Vater und auch meine Mutter als Mitbeteiligte an der illegalen Ausreise von Dr. Švec.
Mein Bruder schickte mir einen Eilbrief nach Südböhmen: ‚Und als wir zu Tisch gehen wollten, um das Mittagessen einzunehmen, geschah etwas Schreckliches. Leute von der Staatssicherheit drangen bei uns ein und führten unseren Vater ab.‘ Ich fuhr noch in derselben Nacht nach Asch. Durch ein angehobenes Fenster der Veranda kletterte ich in unser Haus. Ohne Schlüssel, von der Straße an der Rückseite aus. Alle Türen versiegelt, darauf Aufkleber: ‚Durch Sprengsätze gesichert‘. Ich vergrub mich in einem Haufen Schmutzwäsche, neben meinem Kopf rieselte das Wasser durch ein Abflussrohr. Hinaus wieder durch das Fenster, über den Zaun, zu Bekannten. Dort erhielt ich erste Informationen. Ein Besuch in den Amtsräumen des Staatssicherheitsdienstes. Kerle in karierten Sakkos. Der Tenor ihrer Auskünfte lautete: Ihre Eltern haben schwere Schuld auf sich geladen. Die Familie Švec wird ausgeliefert werden, wir haben die nötigen Mittel dazu.
Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, wie sich totalitäre Macht in der Grammatik niederschlägt? Durch die Art, wie die Fürwörter ‚wir‘ und ‚sie‘ verwendet werden. Und Schurkereien werden stets als Bestandteil einer noch größeren Schurkerei erklärt. Dass das heute nicht mehr so sei? Täuscht euch nur nicht!
Ich erhielt meine erste Lektion im Umgang mit Vertretern der totalitären Macht.
‚Genossen, ich habe, glaube ich, Ihre werten Namen überhört.‘
‚Wozu wollen Sie die wissen?‘
Es folgte eine subtile Andeutung, dass ich nicht zu aufdringlich werden sollte, sonst könnte es mir passieren, dass ich dableiben müsste.
Ein zweiter Kerl kommt aus dem Nebenzimmer. Kariertes Sakko, Parteiabzeichen. Vertraulicher Ton, südböhmischer Akzent:
‚Schauen Sie, wenn Sie was für sie tun wollen, schreiben Sie halt eine Erklärung, dass Sie sich von ihnen lossagen, ja? Sie sind noch jung!‘
Ein Besuch bei unserem künftigen Verteidiger, Dr. Martínek, ein guter, mutiger Mensch, Sokol-Turner und Scout.
‚Das sind Gauner. Nehmen Sie sich in Acht. Keine Besuche bei Verwandten. Stellen Sie sich darauf ein, dass Sie überwacht werden. Und es wäre gut, wenn Sie mir etwas für das Schlussplädoyer der Verteidigung aufschreiben würden.‘
Die Gerichtsverhandlung war in Eger / Cheb. Noch schlimmer war das Berufungsverfahren in Prag. Die Mitglieder der Strafkammer trugen Hermeline um den Hals, aus schrecklich schäbigem Kaninchenfell. In der Saalmitte ein Sohn – ich – und Onkel Olda Š. Und hinten, in zwei Reihen, angeheiterte Herren in blauen Arbeitsanzügen mit roten Bändern, auf denen ‚LM‘ stand, die Abkürzung für ‚Volksmiliz‘. Dieser Trupp rief ab und zu mit rauen Stimmen aus: ‚Weg mit der Bourgeoisie‘ und ‚Tod den Feinden der Arbeiterklasse‘. Der Staatsanwalt ein älterer Herr, schon angegraut, deutlich gebildeter als zuvor der in Eger.
Staatsanwalt: ‚Die sind nach der bourgeoisen Ideologie erzogen worden, mit Vrchlický.‘
Herr Liška: ‚Herr Staatsanwalt, der hat auch die ‚Bauernballaden‘ geschrieben.‘
Staatsanwalt (peinlich berührt): ‚Ich weiß, ich weiß.‘
Das Schlusswort der Angeklagten.
Herr Liška: ‚Ich habe nichts gesehen, aus dem ich schließen hätte können…‘
Der Staatsanwalt fällt ihm ins Wort: ‚Angeklagter, und warum haben Sie das nicht angezeigt?‘
Herr Liška: ‚Sie (das Ehepaar Švec) haben mir geholfen, meine Familie im Krieg zu ernähren. Da wäre ich ein mieser Typ. Ein elender Lump.'
Stille.
Der Richter: ‚Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.‘
Ich habe nach all den Vorkommnissen gelernt zu hassen. Als Einziger. Meine Eltern zogen sich in sich zurück. Sie lebten in irgendeiner anderen Welt. Ein ähnliches Syndrom hatten angeblich die amerikanischen Veteranen des Vietnamkrieges.
Die Beziehungen meiner Mutter zu Tante Švec sind angespannt geblieben. Meine Mutter wurde um ihre Welt gebracht.
Vater: ‚Jeder hat ein Anrecht auf ein eigenes Schicksal. Möge es ihnen gut gehen.‘
Ich bleibe misstrauisch. Umso mehr, als ich 1989 am Prager Wenzelsplatz / Václavské náměstí mitgelaufen bin und geschrien habe: ‚Wir sind nicht wie sie!‘
Wer?
Ideale? Gute Vorsätze? Kultur? Humanität? Pecunia non olet. Die Gesellschaft ist polarisiert. Ich weiß, welcher Pol der meine ist.“
Marie und Josef Liška wurden zu je sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Sie verbüßten die Freiheitsstrafe in mehreren verschiedenen Gefängnissen. Die Hälfte des Familienvermögens wurde eingezogen. Sie verloren die bürgerlichen Ehrenrechte, zu denen unter anderem das Wahlrecht und der Anspruch auf eine Rente gehörten. Außerdem wurde ihnen der Aufenthalt in allen Grenzkreisen verboten.
[Familienarchiv des Verfassers]